Berlin, Reichstagsgebäude mit Bismarckdenkmal

Reichstag

Der Reichstag im Deutschen Reich 1871-1918 (Kaiserreich)

Berlin, Reichstagsgebäude
Berlin, Reichstagsgebäude

Reichstag ist die Bezeichnung für die Volksvertretung eines Reiches, wie sie im Deutschen Reich, in Dänemark, Schweden, Ungarn und seit 1906 in Russland üblich ist bzw. war, während die Volksvertretung des zisleithanischen Teiles der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Reichsrat heißt. Reichstag hieß im frühern Deutschen Reich (HRRDN) die Versammlung der Reichsstände, d. h. der reichsunmittelbaren Mitglieder des Reiches, und später ihrer Bevollmächtigten. Auch die im Revolutionsjahr 1848 in Frankfurt a. M. zusammenberufene deutsche Nationalversammlung wurde Reichstag genannt, eine Bezeichnung, die mit der Gründung des Norddeutschen Bundes auf die Gesamtvolksvertretung der verbündeten deutschen Staaten übertragen wurde.

Berlin, Herrenhaus - seit 1867 Sitz des Norddeutschen Reichstages
Berlin, Herrenhaus – seit 1867 Sitz des Norddeutschen Reichstages

Der Reichstag im Alten Reich (HRRDN)

Der Ursprung der deutschen Reichstage ist auf die Versammlungen der geistlichen und weltlichen Großen zurückzuführen, die im fränkischen Reiche teils gleichzeitig mit den Volks- und Heerversammlungen der März- und Maifelder, teils von diesen gesondert zur Beratung wichtiger Reichsangelegenheiten stattfanden. Diese Versammlungen erlangten nach der Abtrennung Deutschlands vom fränkischen Reich durch die Goldene Bulle, die Wahlkapitulationen und den Westfälischen Frieden eine geregelte Verfassung. Der Reichstag versammelte sich auf Einladung des Kaisers an dem von ihm bestimmten, wechselnden Ort. Zu erscheinen berechtigt waren die Bischöfe, Reichsäbte, Herzöge, Grafen und andere edle Herren und Ministerialen, die der Kaiser berief; später (zuerst 1255) erschienen auch Abgeordnete der Reichsstädte

Luther auf dem Reichstag zu Worms (1521), nach einem Gemälde von Hermann Wislicenus.
Luther auf dem Reichstag zu Worms (1521), nach einem Gemälde von Hermann Wislicenus.

Seit dem 15. Jahrhundert traten die Kurfürsten bedingt durch ihre bevorzugte Stellung zu gesonderter Beratung zusammen; diesem Beispiel folgten die weltlichen und geistlichen Reichsfürsten, und so teilte sich der Reichstag in die drei Kollegien der Kurfürsten, unter denen Kurmainz, der Reichsfürsten, unter denen abwechselnd Salzburg und Österreich, und der Reichsstädte, unter denen diejenige Stadt den Vorsitz führte, in welcher der Reichstag stattfand. Im 17. Jahrhundert gelangte der Grundsatz zur Geltung, dass im Fürstenkollegium nur diejenigen, die den Reichstag von 1582 besucht hatten, Virilstimmen haben, neu erhöhte fürstliche Häuser aber solche nur mit Bewilligung der Mitstände erlangen sollten; zugleich wurde bestimmt, dass die 1582 geführten Stimmen als am Territorium haftend angesehen werden sollten, so dass nach der Teilung eines Fürstentums die Teilhaber zusammen nur eine Stimme führten. In der letzten Zeit des Reiches wurden im Fürstenrat, der sich in eine geistliche und eine weltliche Bank gliederte, 94 Virilstimmen geführt, wozu noch 6 Kuriatstimmen kamen. Das allgemeine Direktorium führte Kurmainz als Reichserzkanzler, bez. dessen Gesandter. Nur ein übereinstimmender Beschluss aller drei Kollegien konnte als Reichsgutachten (conclusum imperii) an den Kaiser gebracht werden. Zu wichtigen Geschäften wurden vom Reichstag Reichsdeputationen eingesetzt, deren Beschlüsse teilweise gleiche Geltung wie die des Reichstags selbst hatten. 

Regensburg, Auffahrt zum Regensburger Reichstag 1711

Als der 1663 in Regensburg zusammengetretene Reichstag sich in die Länge zog und zuletzt dort ständig tagte, ließen sich die Stände nur noch durch Gesandte vertreten. Der Kaiser sandte einen Fürsten als Prinzipal kommissar zu seiner persönlichen Vertretung mit einem staatsrechtskundigen Kon kommissar. Je mehr die kaiserliche Macht abnahm und die staatliche Tätigkeit aus den Zentralorganen sich in die einzelnen Territorien zurückzog, desto mehr verlor der Reichstag selbst an Bedeutung und sank schließlich zu einer Gesandtenkonferenz mit ungemein schleppendem Geschäftsgang herab, so dass die Auflösung des Reiches (1806) wenig mehr als eine bedeutungslose Form beseitigte. Sämtliche auf einem Reichstag gefassten Beschlüsse wurden im sogenannten Reichsabschied oder Reichsrezeß zusammengefasst. Die historische Kommission der bayrischen Akademie der Wissenschaften gab die deutschen Reichtagsakten in zwei Abteilungen (1376 – 1519 und 1520 – 1806) heraus. Von der ersten Reihe sind 12 Bände (bis 1437 reichend, München und Gotha 1867–1901), von der zweiten 4 Bände (Karl V., Gotha 1893 – 1905) erschienen. 

Bismarck im Norddeutschen Reichstag 1867
Bismarck im Norddeutschen Reichstag 1867

Während der Zeit des Deutschen Bundes von 1806 – 66 hatte Deutschland keinen Reichstag. Am 12. Februar 1867 fanden in den Staaten des Norddeutschen Bundes die Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes statt, der bereits am 24. Februar d. J. feierlich in Berlin eröffnet wurde. Durch die Gründung des Deutschen Reiches (18. Januar 1871), die sich als Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund charakterisiert, gingen alle Rechte und Verbindlichkeiten des Norddeutschen Bundes auf das Deutsche Reich über und aus dem Reichstag des Norddeutschen Bundes wurde der deutsche Reichstag, der am 21. März 1871 zum ersten mal als solcher zusammentrat.

Berlin, Siegessäule mit Standort Königsplatz
Berlin, Siegessäule mit Standort Königsplatz vor dem Reichstag

Der Reichstag des Deutschen Reiches 1871 – 1918.

Berlin. Reichstagsgebäude.
Berlin. Reichstagsgebäude.

Der Reichstag des neuen Deutschen Reiches, die Vertretung des einheitlichen deutschen Volkes, geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor. Die Wahlen erfolgen auf Grund des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 und des Wahlreglements vom 21. Mai 1870 mit verschiedenen Nachträgen völlige Gleichheit der Stimmzettel (weißes Papier, gleiches Format, ohne Kennzeichen) und verschiedene Vorschriften zur Sicherung des Wahlgeheimnisses enthält.

Von der Reichstagswahl. Ein schwarzer Landsmann aus unseren Kolonien gibt als Reichstagswähler seine Stimme ab.
Von der Reichstagswahl. Ein schwarzer Landsmann aus unseren Kolonien gibt als Reichstagswähler seine Stimme ab.

Jeder Deutsche ist in dem Bundesstaat in dem er wohnt Wähler, sofern er das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Für Personen des Soldatenstandes des Heeres und der Marine ruht die Berechtigung zum Wählen (nicht aber das Recht, gewählt zu werden), solange dieselben bei der Fahne sind. Ausgeschlossen von der Wahlberechtigung sind: Personen, die unter Vormundschaft oder Kuratel stehen, oder über deren Vermögen der Konkurs gerichtlich eröffnet ist, oder die eine öffentliche Armenunterstützung beziehen oder innerhalb des letzten Jahres bezogen haben und Personen denen durch rechtskräftiges Urteil die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, oder denen nach Maßgabe eines frühern Landesstrafrechts der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist. Wählbar zum Abgeordneten ist im ganzen Bundesgebiet jeder Deutsche, der das 25. Lebensjahr zurückgelegt und einem zum Reiche gehörigen Bundesstaat seit mindestens einem Jahr angehört hat, sofern er nicht von der Wahlberechtigung ausgeschlossen ist. Niemand kann zugleich Mitglied des Bundesrats und des Reichstags sein. Auf durchschnittlich 100.000 Bürger (nach der bei Erlass des Wahlgesetzes maßgebenden Volkszählung) trifft ein Abgeordneter; jedoch wird für einen Bundesstaat, dessen Bevölkerung diese Ziffer nicht erreicht, ebenfalls ein Abgeordneter gewählt.

Reichsverfassung 1871
Reichsverfassung 1871

Der Reichstag besteht aus 397 Mitgliedern:

Die Wahlperiode dauert fünf Jahre (Reichsgesetz vom 19. März 1888; früher drei Jahre); eine Auflösung des Reichstags kann während der Wahlperiode durch Beschluss des Bundesrats unter Zustimmung des Kaisers erfolgen. In diesem Fall müssen binnen 60 Tagen die Wähler und binnen 90 Tagen nach der Auflösung der neue Reichstag versammelt werden. Auch darf der Reichstag ohne seine Zustimmung nicht auf länger als 30 Tage und nicht mehr als einmal während derselben Session vertagt werden.

Reichstagswahlen Januar - Februar 1907
Reichstagswahlen Januar – Februar 1907

Nach Art. 31 der Reichsverfassung durften die Reichstagsmitglieder als solche keine Besoldung erhalten. Infolge des Diätengesetzes vom 21. Mai 1906 erhielten sie von Reichs wegen eine sogenannte Aufwandsentschädigung in Form von freier Eisenbahnfahrt und jährlich 3000 Mark in sechs verschiedenen Raten. Jedoch werden für jeden Tag, den der Abgeordnete in einer Plenarsitzung fehlt, 20 Mark in Abzug gebracht. Das Fehlen wird durch Nichteintragen in die Anwesenheitsliste oder Fehlen bei einer namentlichen Abstimmung festgestellt. Als Mitglied einer anderen politischen Körperschaft darf jemand Diäten nur beziehen, soweit er sie im Reichstag nicht erhält. Freie Eisenbahnfahrt genießen die Abgeordneten während der Dauer der Sitzungsperiode sowie acht Tage vor deren Beginn und acht Tage nach deren Schluss auf allen deutschen Eisenbahnen. Solange der Reichstag vom Kaiser vertagt ist, fallen diese Aufwandsentschädigungen weg. Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag. 

Westfassade des Reichstagsgebäudes zu Berlin
Westfassade des Reichstagsgebäudes zu Berlin

Wenn ein Mitglied des Reichstags ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaat ein besoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienst in ein Amt mit höherem Rang oder Gehalt eintritt, so verliert er Sitz und Stimme im Reichstag und kann seine Stelle in demselben nur durch neue Wahl wiedererlangen (Reichsverfassung, Art. 21). Ohne Genehmigung des Reichstags kann kein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn er bei Ausübung der Tat oder im Laufe des nächsten Tages ergriffen wird. Auf Verlangen des Reichstags wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied und jede Untersuchungs- und Zivilhaft für die Dauer der Session aufgehoben (Art. 31). Auch darf kein Mitglied wegen seiner Abstimmungen oder sonstigen in Ausübung seines Berufs gemachten Äußerung gerichtlich oder disziplinar verfolgt oder sonst außerhalb des Reichstags zur Verantwortung gezogen werden (Art. 30). Die Verhandlungen des Reichstags sind öffentlich; wahrheitsgetreue Berichte darüber bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei (Art. 22). Beschlüsse werden mit absoluter Stimmenmehrheit gefasst; jedoch ist zur Beschlussfähigkeit erforderlich, dass die Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder (also 199 Abgeordnete) anwesend sei (Art. 28). Der Reichstag wählt sein Büro, entscheidet über die Legitimation seiner Mitglieder und regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung (Art. 27). 

Berlin, Reichstagsgebäude - Plenar-Saal
Berlin, Reichstagsgebäude – Plenar-Saal

Die Reichstagsabgeordneten sind Vertreter des gesamten deutschen Volkes, nicht etwa nur der Interessen ihres Wahlkreises und an Aufträge und Instruktionen der Wähler nicht gebunden (Reichsverfassung, Art. 20 ff.). Die Mitglieder und Kommissare des Bundesrats sind befugt, im Reichstag zu erscheinen, jederzeit das Wort zu verlangen und den Standpunkt der verbündeten Regierungen oder ihrer eignen Regierung zu vertreten. Er hat insbesondere das Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und bei gewissen wichtigen Akten der Verwaltung, wie Festsetzung des Reichshaushaltsetats, Ermächtigung zur Aufnahme von Anleihen, Übernahme von Garantien, Beschlüssen über Bau und Konzessionierung von Eisenbahnen, Kontrolle der Reichsverwaltung etc. Ferner steht ihm das Recht der Gesetzesinitiative, das Petitionsrecht und, wenn auch nicht auf Grund der Verfassung, so doch infolge praktischer Übung, das Recht, Adressen zu erlassen und Interpellationen an die Vertreter der Reichsregierung zu. Über die Verwendung aller Einnahmen des Reiches muss dem Reichstag, ebenso wie dem Bundesrat, jährlich durch den Reichskanzler Rechnung gelegt werden. Staatsverträge über Gegenstände, die in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, bedürfen der Genehmigung des Reichstags. Die Beratungen des Reichstags werden entweder durch Vorlagen des Bundesrats oder durch Anträge der Mitglieder veranlasst, auch durch Petitionen, die der Reichstag verfassungsmäßig entgegennehmen und dem Reichskanzler oder dem Bundesrat überweisen kann. Die Reichstagsabgeordneten schließen sich je nach ihrer politischen Anschauung zu einzelnen Fraktionen zusammen.

Bundesrat und Bundestag, Block Deutschland 2009
Bundesrat und Bundestag, Block Deutschland 2009

Am 19. April 1999 wurde der umgebaute Reichstag mit der ersten Bundestagssitzung feierlich eröffnet. Der Reichstag ist nun wieder Sitz des deutschen Parlaments – dem Deutschen Bundestag.

Bildergalerie

Quellenhinweise:

  • „Meyers Konversations-Lexikon“ 5. Auflage in 17 Bänden 1893 – 1897
  • „Meyers Großes Konversations-Lexikon“ 6. Auflage in 24 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien, 1906 – 1908
  • „Meyers Kleines Konversations-Lexikon“, 7. Auflage in 6 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien 1908
  • „Kleine Deutsche Staatskunde“, E. Stutzer – Dresden und Berlin, 1910
Reichsadler 1889-1918

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