Die Hintergründe und ganzen Ursachen der zweiten Marokkokrise 1911 und der Panthersprung nach Agadir.
Um die zweite Marokkokrise zu verstehen, darf man sie nicht als isoliertes Ereignis betrachten, sondern muss sie im Kontext der Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg (1914-1918) sehen. Fünf Jahre nach der ersten Marokkokrise kam es erneut zum Konflikt um das nordafrikanische Marokko zwischen Frankreich und Deutschland. 1908 erhielt die deutsche Firma Mannesmann von Sultan Muley Abdul Hafid von Marokko eine Erzkonzession. Nach und nach erlangte Mannesmann 2000 Erzkonzession und kaufte 90.000 Hektar Land und baute Fabriken, Anlagen und Handelshäuser. Frankreich nahm 1911 die Unruhen in Marokko zum Anlass, um die Städte Rabat und Fes zu besetzten.
Rund 100.000 französische und spanische Soldaten waren zu dieser Zeit bereits in Marokko stationiert. Das drastische Vorgehen der französischen Militärbehörden stört die deutschen wirtschaftlichen Interessen im Lande. Jedoch will der Staatssekretär des Auswärtigen Amts, von Kiderlen-Wächter, aus dieser Lage koloniale Vorteile aus der Krise rausschlagen. Deutschland erklärte sich bereit Marokko Frankreich zu überlassen, verlangte aber als Ausgleich das französische Kongogebiet.
Das enge Zusammenhalten der Entente-Mächte Großbritannien und Frankreich offenbarte sich in geradezu bedrohlicher Weise anlässlich der so genannten zweiten Marokkokrise. Im März des Jahres 1911 kam in Paris ein neues Ministerium ans Ruder, dem auch wieder der antideutsche Hardliner Delcassé angehörte. Er war zwar nur Marineminister und es wurde nach außen betont, er solle keinen Einfluss auf die Politik ausüben, aber aus mehreren Anzeichen ist zu schließen, dass sein unversöhnliches Auftreten gegenüber Deutschland auf die Kollegen im Kabinett abfärbte. Kurz nach dem Regierungswechsel teilte der französische Botschafter in Berlin Jules Cambon der deutschen Regierung in der Berliner Wilhelmstraße mit, dass Unruhen in Fez (dem Sitz des Sultans von Marokko) ausgebrochen seien, Frankreich veranlassen könnten „zum Schutz der Europäer“ Truppen dorthin zu senden.
In seiner Antwort betonte Kiderlen-Wächter, er könne nicht verhehlen, dass zu befürchten sei, die deutsche öffentliche Meinung werde die Besetzung eines zweiten wichtigen Hafens (neben Casablanca) durch Frankreich als einen Schritt zu der Beseitigung der Konvention von Algeciras ansehen. In Berlin und auch anderweitig durchschaute man sogleich die heimliche Absicht der Franzosen, von der „friedlichen Durchdringung“ Marokkos zur gewaltsamen Besitzergreifung überzugehen. Am 15. Mai erhielt die deutsche Regierung die offizielle Nachricht, dass Paris sich entschließen müsse Fez tatsächlich zu okkupieren, doch solle die Okkupation nur für die unbedingt nötige Zeit andauern. Demzufolge rückten französische Truppen in die genannte Stadt ein.
Jules Cambon
* 05.04.1845 in Paris,
†19.09.1935 in Vevey (Schweiz);
französischer Botschafter in Berlin 1907 – 1914; schaffte eine vertragliche Einigung mit Deutschland über die Entschädigung mit Kolonialbesitz in Afrika.
In Deutschland bestanden anfangs Meinungsverschiedenheiten über die Haltung, die man einnehmen solle. Kaiser Wilhelm II. vertrat den Standpunkt, dass es nur günstig sei, „wenn die Franzosen sich mit Truppen und Geld in Marokko engagierten“; man dürfe sie nicht daran verhindern und vor allem nicht wieder wie früher an die Entsendung von Kriegsschiffen denken. Demgegenüber war der Gedankengang Kiderlen-Wächters folgender: Der Sultan von Marokko hatte seine Selbständigkeit verloren, da er nur mehr von Gnaden der französischen Bajonette lebte. Die erst 1906 unmittelbar nach der Ersten Marokkokrise abgeschlossene Algecirasakte war demnach außer Geltung gesetzt. Dadurch hatten die an ihr beteiligten Mächte die volle Freiheit zum Handeln. Um nun Kompensationen für die Besitzergreifung von Marokko durch Frankreich zu erlangen, müsste Deutschland Schiffe nach Häfen in Süd-Marokko, nämlich Agadir und Mogador, schicken, wo deutsche Firmen große Interessen besaßen und dann mit einem „Faustpfand“ in der Hand zu Verhandlungen übergehen. Wirtschaftliche Interessen bestimmten also die deutsche Politik.
Die Idee kolonialer Zugeständnisse an das Deutsche Reich wurde auch von französischer Seite vertreten und von Botschafter Jules Cambon sogar ausdrücklich erwähnt. Kiderlen-Wächter aber fürchtete, wenn Marokko einmal ganz in der Gewalt Frankreichs sei und Deutschland nichts unternehme, werde es nur sehr wenig bekommen. Als nun im Juni 1911 Spanien, ganz nach dem Muster Frankreichs seinerseits bei Alkassar Truppen landete um diesen Ort und Larasch vor „aufständischen Kabylen“ zu schützen, betonte der stellvertretende Staatssekretär im Auswärtigen Amt Arthur Zimmermann im Einklang mit den Ansichten Kiderlen-Wächters in einer Aufzeichnung die Notwendigkeit einer deutschen Aktion.
Arthur Zimmermann
* 05.10.1864 in Marggrabowa (Ostpreußen),
† 06.06. 1940 in Berlin; Diplomat.
Leiter das Auswärtige Amtes 1916/17. Entwickelte den Plan vom „Panthersprung nach Agadir“.
Er wies darauf hin, dass Frankreich darauf ausgehe, die Errichtung der „Schutzherrschaft“ über Marokko als eine Tat im Sinne der Algecirasakte hinzustellen, während sie doch das Gegenteil sei. Dadurch werde die deutsche Regierung, die immer für die Unabhängigkeit des Sultans und die Gleichberechtigung der Nationen eingetreten sei, vor der Welt und dem eigenen Lande eine schwere Niederlage erleiden. Ein zu später Einspruch werde Frankreich Zeit geben die öffentliche Meinung überall gegen Deutschland aufzuwiegeln und hernach jede Kompensation abzulehnen. Man müsse also jetzt in Paris bekannt geben, man sei an der Hand der letzten Ereignisse zu der Überzeugung gelangt, dass es ein unabhängiges Marokko nicht mehr gebe und alle Mächte, frei von den Voraussetzungen der Algecirasakte, wie Spanien und Frankreich Maßnahmen zum Schütze ihrer Interessen treffen könnten.
Hierauf müsse man vier Kreuzer der Kaiserlichen Marine nach Mogador und Agadir entsenden und nach deren Ankunft mitteilen, man wolle Frankreich und Spanien keinerlei Schwierigkeiten bereiten und sei zu jeder Aussprache bereit. Was die deutsche Regierung bezweckte liegt auf der Hand: Die Leiter der deutschen Politik wollten genau wie 1909 den Gegensatz zu Frankreich in Nordafrika aus der Welt schaffen. Frankreich durfte sich in Zukunft ungehindert dort ausdehnen, aber für dieses Zugeständnis hoffte man, im rechten Augenblick eine möglichst große Kompensation verlangen zu können. Auch Kaiser Wilhelm II. ließ sich am 26. Juni 1911 für den, aus unserer heutigen Sicht, riskanten Plan gewinnen.
Am 30. Juni 1911 ging an die Signaturmächte des Vertrages von Algeciras die schriftliche Mitteilung ab, dass Deutschland zum Schutz seiner Untertanen ein Kriegsschiff nach Agadir entsenden werde, das dort für die Dauer der Unruhen in Marokko bleiben solle und zugleich wurden mündliche Erklärungen im Sinne von Zimmermanns Aufzeichnung gegeben. Da sich das Kanonenboot Panther bereits auf der Rückreise aus Kamerun befand, wurde es vor Agadir (Panthersprung nach Agadir) beordert und ging dort vor Anker. Der deutsche Schritt, der für die Eingeweihten keineswegs durchaus unerwartet kam, wurde zunächst überall verhältnismäßig ruhig aufgenommen. Der französische Außenminister war zwar überrascht, aber „nicht bestürzt“, die Pariser Presse verhielt sich in den ersten Tagen recht gemäßigt.
Agadir („Festung des Kaps“) ist eine Hafenstadt an der Atlantikküste von Marokko, liegt 10 km nördlich von der Mündung des Wadi Sus. Früher war Agadir der beste Hafen dieser Küste, aber im Jahr 1911 mittlerweile verwahrlost. Agadir besitzt eine alte Zitadelle, verfallende Mauern und ca. 1000 Einwohner. Die Portugiesen legten hier zum Schutz ihrer Fischerei um 1500 das Fort Santa Cruz an und erbauten später eine Stadt um dasselbe, die, 1536 von Marokko erobert, zu einem wichtigen Handelsplatz emporblühte. Doch wurde der Hafen später geschlossen, und Agadir, dessen Stelle dann Mogador einnahm, hatte nur noch als Zollamt für die aus der Sahara kommenden Waren Bedeutung.
Italien und Russland zeigten sich ziemlich gleichgültig, als sich plötzlich Großbritannien dem deutschen Ansinnen entgegenstellte und der neue Unterstaatssekretär im britischen Auswärtigen Amt, der frühere Botschafter in St. Petersburg (Russland) Sir Arthur Nicolson bemerkte, Agadir sei kein offener Hafen und die Frage stellte, ob Deutschland Truppen landen werde. Der deutsche Botschafter in London Paul Metternich konnte jedoch noch nicht eindeutig antworten. Kurz danach erklärte der britische Außenminister Edward Grey, nun sei eine neue, heikle Lage entstanden, die Großbritannien zwinge seine eigenen Interessen in Marokko zu verfolgen. Eine schriftliche Mitteilung in diesem Sinne erfolgte am 4. Juli 1911.
Paul Wolff-Metternich
* 05.12.1853 in Bonn,
† 29.11.1934 in Heppingen;
deutscher Botschafter in London 1901 – 1912, versuchte vergeblich einen Ausgleich mit Großbritannien zu erreichen.
Drei Tage später bekannte sich der französische Außenminister zu Verhandlungen mit Deutschland bereit und Botschafter Cambon, der von Paris nach der deutschen Hauptstadt zurückkehrte, erhielt die Vollmacht zur Besprechung von Kompensationen. Seine erste Unterredung mit Kiderlen-Wächter verlief verhältnismäßig günstig. Der Name des französischen Kongogebietes als Austauschobjekt wurde genannt und der Vertreter Frankreichs war sichtlich erleichtert, als er erkannte, dass Deutschland in Marokko selbst keine Ansprüche erhebe. Inzwischen drängte Kaiser Wilhelm II. auf raschen Abschluss, um die bestehende Spannung möglichst bald zu beseitigen: „Die elende Marokko-Affäre muss zum Abschluss gebracht werden, schnell und endgültig. Es ist nichts zu machen, französisch wird es doch. Also mit Anstand aus der Affäre heraus!“ Bei einer zweiten Unterredung mit Cambon am 15. Juni 1911 sagte nunmehr Kiderlen-Wächter unumwunden, er wolle „den französischen Kongo, und zwar ganz“ haben. Diese Forderung bezeichnete der französische Botschafter als unannehmbar.
Edward Grey
* 25.04.1862 in London,
† 07.09.1933 in Fallodon,
britischer Minister (1905–1916), seine Politik war von einer Eindämmung des Deutschen Reiches geprägt.
Im Anschluss an die zuletzt erwähnte Besprechung trat ziemlich unmittelbar eine Krise ein, deren Schauplatz aber weniger Paris als London war. Am 21. Juli 1911 hatte der britische Außenminister Grey mit dem deutschen Botschafter Paul Metternich ein ernstes Gespräch. Grey frug, was Deutschland in Agadir eigentlich wolle und ließ durchblicken, er befürchte ein Festsetzen in Marokko selbst. Am gleichen Tage hielt der Schatzkanzler Lloyd George in London eine Rede, in der er von der britischen Nationalehre sprach und recht deutlich mit dem Krieg drohte, falls Großbritannien da, wo vitale Interessen auf dem Spiele ständen „im Rate der Völker zur Seite geschoben werde„. Die ganze Welt verstand sofort, dass diese Ansage als Drohung für Deutschland gemeint waren. Mit einem Schlag nahm die ganze Marokkokrise eine bedrohliche Form an. Die Frage war nur, was bezweckte Großbritannien damit? War es entschlossen das Schwert zu ziehen, um Frankreich zu unterstützen? In Großbritannien brach nun eine mehrmonatige wütende Zeitungskampagne gegen Deutschland los. Die „Times“ forderte sogar britische Kriegsschiffe nach Agadir zu entsenden.
In Deutschland, wo niemand ernsthaft an einen bewaffneten Konflikt dachte, entstand über Großbritanniens Reaktion eine tiefe Verbitterung. Die deutsche Regierung verzichtete zwar auf eine öffentliche Antwort an Lloyd George, um eine weitere Zuspitzung zu vermeiden, ließ aber am 25. Juli 1911 durch Botschafter Metternich einen scharfen Protest aussprechen. Schon vorher hatte sie versichern lassen, dass eine Landung in Agadir nur im äußersten Notfall beabsichtigt sei. Und tatsächlich lagen die deutschen Kriegsschiffe S.M.S. Panther, abgelöst von S.M.S Eber und später von S.M.S. Berlin in Agadir die ganze Zeit nur vor Anker, ohne dass die Besatzung an Land ging. Allmählich trat dann eine Beruhigung der Lage ein. Die Verhandlungen zwischen Berlin und Paris dauerten zwar noch lange, aber am 4. November 1911 konnte ein Abkommen (Deutsch-französisches Abkommen über Marokko vom 4. November 1911) fertig gestellt werden. Auf Grund dessen bekam Deutschland ein Stück des französischen Kongo als Abrundung für seine Kolonie Kamerun, während es seinerseits auf jede weitere Einmischung in Marokko verzichtete.
Wenn man den Verlauf der Ereignisse überblickt, so erscheint das schroffe britische Vorgehen zunächst unbegreiflich. Glaubte man wirklich an eine Kriegsgefahr, oder wollte man sogar einen militärischen Konflikt herbeiführen? Es ist noch heute nicht ganz klar, was sich eigentlich in London hinter den Kulissen abspielte. Der Vertreter der englischen Arbeiterpartei Keir Hardie sprach nachher von dem „krankhaften Geisteszustand, der in einigen Köpfen des Foreign Office herrsche„. Inzwischen ist es auch allgemein bekannt, dass es insbesondere in Großbritannien sehr einflussreiche Kreise gab, die in einem Krieg gegen Deutschland die Lösung all ihrer Probleme sahen. Gewisse Anzeichen lassen darauf schließen, dass Grey den Russen ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Marokkofrage zum Vorwurf machte und der britische Botschafter in Paris zum mutigen Widerstand riet. Eines aber ist ganz klar: In den Tagen um den 20. Juli 1911 war Großbritannien abermals bereit für Frankreich bis zum äußersten zu gehen. Dafür sprechen schon allein die militärischen Vorbereitungen, die man in aller Hast anordnete. Es wurde nicht nur ein Teil der Flotte mobil gemacht, sondern der britische Generalstabschef Wilson reiste schleunigst nach Paris und vereinbarte dort mit dem französischen Generalstabschef Dubail umfassende Maßnahmen für das gemeinsame Vorgehen der beiderseitigen Landheere.
Die britischen Truppen, die in Nordfrankreich an Land gesetzt werden sollten, wurden auf sechs Divisionen festgesetzt. Das Band, das beide Länder durch das herzliche Einverständnis (Entente cordiale) bereits seit 1904 verknüpfte, wurde noch enger als bisher und das bedeutete eine Erhöhung der Gefahr für Deutschland. Später brachte der britischen Hauptmann Faber Angaben hinsichtlich der überstürzten Kriegsvorbereitungen in die Öffentlichkeit, die allgemeines Aufsehen erregten und dem liberalen Kabinett, das jetzt unter der Führung von Asquith, dem Nachfolger Campbell-Bannermans stand, scharfe Kritik im eigenen Lager einbrachten. Nun erwachte plötzlich in den einsichtigen Kreisen die Erkenntnis, dass man durch die Stellungnahme gegen die Mittelmächte nahe an einer schweren Kriegsgefahr vorübergegangen war. Gegen Ende des Jahres 1911 wurde deshalb besonders Grey heftig angegriffen.
David Lloyd George
* 17.01.1863 in Manchester,
† 26.03.1945 in Llanystumdwy,
britischer Kriegsminister 1915 – 1916, Premierminister 1916 – 1922; drohte 1911 indirekt mit Krieg und verhinderte so eine Übereinkunft mit Deutschland.
Es regten sich ernsthafte Zweifel, ob die von Grey so eingeschlagenen Richtung wirklich nützlich sei. Besonders schwer fiel dabei ins Gewicht, dass sich gerade damals ein scharfer Konflikt zwischen Großbritannien und Russland abspielte. Das Zarenreich wollte nämlich, um den ihm als Einflussgebiet zugestandenen Teil Persiens (Iran) in restlose Abhängigkeit von sich zu bringen bis nach Teheran vorstoßen, was Großbritannien, das an der scheinbaren Erhaltung der persischen Freiheit festhielt, nicht duldete. Und so wäre es beinahe zum Bruch zwischen Großbritannien und Russland gekommen. Als der russischen Außenminister Sasonow im Dezember 1911 Paris besuchte, warnte der russische Botschafter in Paris Alexander Iswolski ernstlich vor einer Gefährdung der „englisch-russischen Entente“. Kaiser Wilhelm II. zitierte genau diesen Iswolski später in seinen Memoiren mit dessen Ausspruch: „Je suis le père de cette guerre.“ („Ich bin der Vater dieses Krieges.“ – des Ersten Weltkrieges).
Alexander Iswolski
* 18.03.1856 in Moskau,
† 16.08.1919 in Paris;
russischer Außenminister 1906 – 1910, russischer Botschafter in Paris 1910 – 1917; sagte von sich selbst: „Ich bin der Vater dieses Krieges.“
In der Folge entstand in Großbritannien das Ansinnen mit Deutschland eine Verständigung anzubahnen. Auf der anderen Seite wirkte sich in Deutschland das Erlebnis der plötzlichen Bedrohung durch die Briten dahin aus, dass man die feste Überzeugung gewann, man müsse sich besser als bisher schützen und wappnen. „Wir wissen jetzt, wo der Feind steht!“ rief damals der Führer der Konservativen von Heydebrand im Reichstag aus und offenbarte damit die Gefühle der überwiegenden Mehrheit des Volkes. Diese Stimmung stärkte die Vorstellung, dass man sich vor britischen Kriegsdrohungen nur durch eine weitere Verstärkung der deutschen Flotte schützen könne. So kam es, dass im Herbst 1911 Tirpitz und Kaiser Wilhelm II. „mit großer Entschiedenheit“ die Einbringung einer Flottennovelle im kommenden Frühjahr verlangten, durch die für die nächsten sechs Jahre eine Vermehrung des ursprünglichen Bauplanes an großen Linienschiffen bewilligt werden sollte. Aus der Verschiedenheit der aktuellen Lagebeurteilung ergab sich in Deutschland wie in Großbritannien auch ein unterschiedliches Verfahren.
Alfred von Tirpitz
* 19.03.1849 in Küstrin (Brandenburg),
† 06.03.1930 in Ebenhausen (bei München);
Großadmiral der Kaiserlichen Marine, Staatssekretär des Reichsmarineamts 1897-1916; wollte mit einer starken Flotte Großbritannien zur Kooperation zwingen.
Am 29. Januar 1912 legte Sir Ernest Cassel durch den deutscher Reeder Albert Ballin, Wilhelm II. persönlich einen schriftlichen Vorschlag zu Verhandlungen vor. Danach sollte Deutschland die britische Überlegenheit zu Wasser anerkennen und seine Flotte nicht vergrößern, wenn möglich sogar einschränken. Dafür wollte Großbritannien eine deutsche Ausdehnung auf kolonialem Gebiet nicht hindern, sondern sogar fördern. Weiterhin wurde der Austausch von Erklärungen angeregt, die beide Mächte davon abhalten sollten, „sich an aggressiven Plänen oder Kombinationen zu beteiligen, die gegen eine derselben gerichtet sind„. Kaiser Wilhelm II. stimmte grundsätzlich zu, hob jedoch hervor, auf die Flottennovelle nun nicht mehr verzichten zu können.
Dabei handelte es sich um den Plan, im Zeitraum 1912/1917 abwechselnd je drei und je zwei neue Großkampfschiffe aufzulegen. Der deutsche Botschafter Metternich in London kritisierte sofort, dass sich die Flottennovelle und das Versprechen die Kaiserliche Marine nicht zu vergrößern widersprächen. Ebenfalls wies er darauf hin, dass die Zusicherung der Neutralität im Kriegsfalle durch die Hinzufügung des Wortes „aggressiv“ wertlos sei, da man den Begriff des Angriffes im Notfall immer nach Belieben auslegen könne. Eine Loslösung Großbritanniens von der Ententepolitik sei nur durch Fallenlassen der Flottennovellen zu erreichen. Demgegenüber vertrat der Reichskanzler Bethmann Hollweg die Ansicht, ein solches Fallenlassen könne nur in Frage kommen, wenn zugleich „ausreichende Bürgschaften für eine freundschaftliche Orientierung der englischen Politik gegeben würden„. Der Gegensatz, der sich hieraus ableitete, war für den weiteren Verlauf der Angelegenheit, wie wir bald sehen werden, ausschlaggebend.
Richard Burdon Haldane
* 30.07.1856,
† 19. 08.1928;
Staatssekretär für Krieg 1905 – 1912, Lordkanzler 1912 – 1915; wurde wegen falscher Vorwürfe Sympathien für Deutschland zu haben zum Rücktritt gezwungen.
Am 8. Februar 1912 traf der britische Kriegsminister Lord Haldane, der ausgesprochene Sympathien für Deutschland besaß, in Berlin ein. Zuerst hatte er mit Bethmann Hollweg eine Unterredung, bei der die gegenseitigen Wünsche zur Anbahnung besserer Beziehungen zum Ausdruck kamen. Darauf folgte am 9. Februar unter Anwesenheit Wilhelm II. auf dem kaiserlichen Schloss eine lange Aussprache zwischen Tirpitz und Haldane. Hier wurde nach Angaben des Kaisers einmal der Abschluss einer politischen Vereinbarung in Aussicht genommen und außerdem hinsichtlich der Flotte verabredet, dass Deutschland zwar sein drittes Geschwader, das ihm die Novelle einbringen sollte, haben könne, aber erst 1913 mit dem Bau beginnen und in diesem Jahre und 1916 und 1919 je ein weiteres Schiff zu den regelmäßigen zwei großen Linienschiffen hinzufügen werde. Nunmehr ging der Reichskanzler Bethmann Hollweg, dem es auf eine gründliche Beseitigung der bestehenden Gegensätze ankam, sofort daran den Entwurf eines politischen Abkommens auszuarbeiten. Die Hauptsache dabei war, dass beide Parteien einander für den Fall eines Krieges wohlwollende Neutralität zusichern sollten. Haldane dagegen wollte das nur gelten lassen, wenn ein „unprovozierter Angriff“ vorlag, was natürlich ein sehr dehnbarer Begriff war.
Theobald von Bethmann Hollweg
* 29.11.1856 in Hohenfinow (Brandenburg),
† 01.01.1921 in Hohenfinow;
fünfter Reichskanzler vom 14.07.1909 bis 13.07.1917; schaffte es nicht den Ring der Einkreisung Deutschlands zu sprengen.
Im übrigen erklärte er nicht zu wissen, ob dem britischen Kabinett das Entgegenkommen hinsichtlich des Flottenbaues genügen werde und regte an, für die ersten drei Jahre auf jeden zusätzlich Neubau zu verzichten. Darüber hinaus wurden koloniale Geschäfte vereinbart. So sollte Deutschland ganz Angola und Großbritannien Timor bekommen. Ferner sollte Deutschland das Recht haben, bei gegebener Gelegenheit Teile des belgischen Kongos zu kaufen und außerdem gegen eine Großbritannien zugestandene Beteiligung an der Bagdadbahn von diesem Sansibar und Pemba erhalten. Das alles bezweckte, genau wie bei den Verhandlungen mit Russland im Anschluss an die Kaiserbegegnung in Potsdam, eine völlige Beseitigung der Reibungsflächen. Man sah die Aussichten in Berlin zunächst als günstig an. Die erste Sondierung war befriedigend verlaufen. Als jedoch Haldane nach London zurückgekehrt war und die Vorschläge, die er mitgebracht hatte, vom Ministerrat geprüft worden waren, stellten sich bald Zweifel an deren Durchführbarkeit ein. Grey teilte am 22. Februar 1912 dem deutschen Botschafter Metternich mit, dass die britische Admiralität nach genauer Prüfung der deutschen Flottennovelle starke Bedenken vor allem wegen der beabsichtigten Vermehrung der Mannschaft hege und sich zu erheblichen Gegenmaßnahmen veranlasst sehe und dass es ihm kaum möglich sein werde, ein politisches Abkommen zu schließen, „welches dazu bestimmt sei, eine neue und bessere Ära der deutsch-englischen Beziehungen einzuleiten, wenn zu gleicher Zeit eine Erhöhung der beiderseitigen maritimen Rüstungen stattfinde„. Bei aller Betonung seines Wunsches, zu einer Einigung zu gelangen, verhielt sich der britische Außenminister also ziemlich zurückhaltend. Auch im Hinblick auf die kolonialen Tauschgeschäfte machte er Einwände.
Man darf hierbei nicht übersehen, dass kurz zuvor der oben erwähnte Konflikt zwischen Großbritannien und Russland wegen Persien (Iran) beigelegt wurde und man daher wenig Bedürfnis an einer Veränderung der Politik verspürte. Im weiteren Verlauf spitzte sich der Widerspruch nun hauptsächlich dahin zu, dass man von Seiten Großbritanniens größere deutsche Zugeständnisse im Flottenbauprogramm erwartete, während andererseits in Deutschland solche Zugeständnisse nur dann zu machen glauben könne, wenn durch einen möglichst klaren Neutralitätsvertrag eine deutschfreundliche Stellung Großbritanniens gewährleistet sei. Aber so war eine Einigung kaum zu erreichen! Trotzdem kämpfte Bethmann Hollweg mit vollem Einsatz dafür und brachte sogar Kaiser Wilhelm II. in eine Zwickmühle. Als das Marineamt die Flottennovelle dem Reichstag vorlegen wollten, bevor die Stellungnahme durch die britische Regierung klar war, ging der Reichskanzler sogar soweit, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Aber Tirpitz wollte nicht weiter warten und so wertvolle Zeit verstreichen lassen und drohte nun Kaiser Wilhelm II. seinerseits bei einer weiteren Verzögerung mit Rücktritt. Anfang März 1912 sprach Grey schon davon, dass er hoffe, auch ohne irgendwelche Abmachungen werde Haldanes Mission das beiderseitige Vertrauen fördern. Er glaubte im Grunde also an kein Zustandekommen eines Vertrages mehr. Ganz zum Schluss forderte der deutsche Reichskanzler in teilweiser Anlehnung an einen Befehl seines Monarchen „ein die Neutralität Englands verbürgendes, einem Schutzbündnis… nahe kommendes Abkommen„.
Der britische Außenminister entgegnete, das sei mehr als Frankreich und Russland zugesagt worden sei. Ende März traf dann die endgültige Absage aus London ein. So endete der letzte Versuch zu einer Verständigung zwischen Deutschland und Großbritannien. Eigentlich war er von Anfang an, wie Botschafter Metternich betonte, ein totgeborenes Kind, weil eben die Gegensätze bereits zu stark entwickelt waren. Großbritannien konnte und wollte die ihm nahegelegte Abwendung von der Entente nicht mehr vollziehen. Haldane gestand ganz offen ein, dass seine Regierung „ihr freundschaftliches Verhältnis zu Frankreich und Russland nicht in Frage stellen wolle„. In Frankreich erklärte man selbstbewusst, dass die Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung „den gegenwärtigen französisch-englischen Beziehungen mit einem Schlage ein Ende machen würde„. Auf der anderen Seite herrschte in Deutschland ein tiefes Misstrauen gegen die Absichten des britischen Empire, das besonders bei Wilhelm II. und Tirpitz stark ausgeprägt war. Eine weitgehende Einschränkung der Rüstungen ohne die gleichzeitige Gewissheit, dass kein britischer Angriff zu befürchten sei galt beiden als undenkbar. Der Kaiser kam nun zu der Überzeugung, Großbritannien habe die Annäherung nur zum Schein angestrebt, um die Modernisierung der Flotte zu behindern. Letztendlich war die internationale Lage schlechter statt besser geworden. Das Wettrüsten nahm in allen Ländern seinen ungehinderten Fortgang. Die deutsche Flottennovelle wurde eingebracht und bewilligt. Das britische Parlament nahm seinerseits neue Bauten an und die britische Admiralität verlegte die Basis der atlantischen Flotte von Gibraltar nach einem Heimathafen in der Nordsee.
Auf diese Weise war es Reichskanzler Bethmann Hollweg nach keiner Seite geglückt, die dreifache Front der Entente und damit die Einkreisung Deutschland zu durchbrechen. Russland wagte keine Annäherung aus Rücksicht auf die Verbündeten. Von Großbritannien trennte ein unüberbrückbarer Gegensatz. Und die Marokkokrise mit Frankreich, die den Zwist in Nordafrika aus dem Wege räumen sollte, führte sogar, wie die kommenden Ereignisse zeigen werden, zu einer Vergrößerung der Kluft zwischen der Republik und dem Deutschen Reich. Die politischen Machtverhältnisse, so wie sie sich im Laufe der Jahre herausgebildet hatten, war bereits stärker, als der Wille des Einzelnen, der versuchte, gegen sie anzugehen. Europa war und blieb in zwei Teile, den Staaten der Entente und den Mittelmächten, geschieden. Die zweite Marokkokrise führte dazu, dass die Generalstäbe von Frankreich und Großbritannien noch im selben Jahr (1911) einen gemeinsamen Aufmarschplan für den Kriegsfall gegen Deutschland ausarbeiteten, der dann auch 3 Jahre später zum Einsatz kam. Am 25.11.1911 veröffentlicht die britische Regierung das Geheimabkommen von 1904 mit Frankreich, nach dem Ägypten zur britischen und Marokko zur französischen Einflusssphäre erklärt werden.
Generalstabschef Helmut von Moltke schrieb während der zweiten Marokkokrise verärgert: „Wenn wir aus dieser Affäre wieder mit eingezogenem Schwanz herausschleichen, wenn wir uns nicht zu einer energischen Forderung aufraffen können, die wir bereit sind mit dem Schwert zu erzwingen, dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reiches. Dann gehe ich. Vorher werde ich den Antrag stellen, die Armee abzuschaffen und uns unter das Protektorat Japans zu stellen, dann können wir ungestört Geld machen und versimpeln.„
Zusammenfassung und Fazit:
Kiderlen-Wächter war ein Diplomat der Bismarckschen Schule, dazu kenntnisreich und erfahren, neigte jedoch durch sein cholerisches Temperament auch dazu über die Stränge zu schlagen und besaß leider nicht die umfassende diplomatische Weitsicht eines Otto von Bismarcks, der stets bestrebt war sich nach allen Seiten abzusichern. Um die vertragsbrüchigen Franzosen an den Verhandlungstisch zu bringen, verfiel Kiderlen-Wächter auf ein drastisches Mittel, das unnötig innere und äußere Gefahren heraufbeschwor. Frankreich hatte trotz des Algeciras-Abkommens von 1906 seine „friedliche Durchdringung“ Marokkos weiter vorangetrieben und so gar nicht friedlich Marokko nahezu komplett seinem nordafrikanischen Kolonialreich einverleibt. Da die Franzosen auf die dezenten Hinweise Deutschlands nicht reagierten, empfahl Kiderlen-Wächter die Entsendung eines Kanonenbootes nach dem südmarokkanischen Agadir.
Nun kamen erwartungsgemäß die gewünschten Verhandlungen mit Frankreich zustande, die nach monatelangem und zähen diplomatischen Kampf schließlich zum deutsch-französischen Abkommen vom 4. November 1911 führten. Deutschland bekam ein großes Stück als Entschädigung für seinen Rückzug aus Marokko vom französischen Kongogebiet; das fortan als Neukamerun seiner Kolonie Kamerun einverleibt wurde. Dadurch wurde Marokko endgültig Frankreich überlassen, das nun fast alle nordwestafrikanischen Gebiete seinem Kolonialreich endgültig einverleibt hatte. Für sich allein gesehen war der „Panthersprung nach Agadir“ also ein Erfolg für Deutschland. Aber der große Fehler Kiderlen-Wächters war, sich bei den anderen europäischen Mächten, insbesondere Großbritannien, über entsprechende diplomatische Aktivitäten keine Rückendeckung eingeholt hatte. Durch seine ungenügende Aufklärung über den Zweck des ganzen Unternehmens versäumte es Kiderlen-Wächter auch in Deutschland die öffentliche Meinung zu kontrollieren und ließ in den nationalen Kreisen unerfüllbare koloniale Hoffnungen groß werden, die dann durch das Resultat doch enttäuscht wurden.
Denselben Fehler ungenügender Einfühlsamkeit in die Mentalität machte Kiderlen-Wächter gegenüber den Briten. Während der „Panthersprung“ in Paris mit verhaltenem Groll hingenommen wurde, erhob sich dagegen in London ein wahres Wutgeschrei, da die damalige Weltmacht Nr. 1 Großbritannien das Gefühl hatte bei einer so wichtigen Entscheidung einfach beiseite geschoben worden zu sein. Am 21. Juli 1911 erklärte der Schatzkanzler Lloyd Georg im Mansion House ganz aus jenem Gefühl der Zurücksetzung heraus: „Wenn uns eine Lage aufgezwungen würde, in der der Frieden nur erhalten werden könnte durch Aufgabe der Stellung, welche wir in heldenhaften Anstrengungen errungen haben, oder durch Zulassung einer Verhandlung, bei der die Lebensinteressen unseres Volkes in der Weise verletzt würden, als ob es kein Gewicht im rate der Völker hätte, so würden wir das nicht hinnehmen dürfen.“ Erst jetzt beauftrage Kiderlen-Wächter den deutschen Botschafter in London Wolff-Metternich damit, der britischen Regierung über die Motive der deutschen Aktion aufzuklären, was dieser am 24. Juli 1911 auch tat. Durch die schlechte Vorbereitung und mangelnde diplomatische Sensibilität zog die Aktion Kiderlen-Wächters immer weitere Kreise, anstatt wie beabsichtigt mit Frankreich eine Klärung herbeizuführen. Kiderlen-Wächter erlebte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 nicht mehr, er starb am 20. Dezember 1912 in seiner Geburtsstadt Stuttgart im Alter von 60 Jahren.
Bildergalerie
Quellenhinweise:
- „Meyers Konversations-Lexikon“ in 24 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien 1906
- „Meyers kleines Konversations-Lexikon“ in 6 Bänden 1908
- „Meyers Lexikon“ in 12 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig 1924
- Fotos aus „Woche“ Berliner August Scherl Verlag, Ausgaben 1900 – 1914
- „Geschichte des Deutschen Reiches 1871 – 1924“ von Johannes Hohlfeld, Verlag von G. Hirzel in Leipzig 1924
- „War alles falsch?“, Joachim von Kürenberg, Athenäum-Verlag – Bonn 1951
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