Marokkoabkommen 1911

Marokkoabkommen vom 4. November 1911

Deutsch-französisches Abkommen über Marokko vom 4. November 1911.

Die Kaiserlich Deutsche Regierung und die Regierung der Französischen Republik haben infolge der in Marokko entstandenen Unruhen, die die Notwendigkeit erwiesen haben, dort im allgemeinen Interesse das in der Algecirasakte vorgesehene Werk des ruhigen Fortschritts zu fördern, es für notwendig erachtet, das deutsch-französische Abkommen vom 9. Februar 1909 zu erläutern und zu ergänzen. Sie haben sich daher über einen neuen Vertrag geeinigt.
Infolgedessen haben

Herr von Kiderlen-Waechter,

Staatssekretär des Auswärtigen Amts des Deutschen Reichs,

und

Herr Jules Cambon, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Französischen Republik bei Seiner Majestät dem Deutschen Kaiser,

sich ihre Vollmachten, die gut und richtig befunden worden sind, mitgeteilt und nachstehende Vereinbarung getroffen:

Artikel 1.

Die Kaiserlich Deutsche Regierung erklärt, daß, da sie in Marokko nur wirtschaftliche Interessen verfolgt, sie Frankreich nicht in seinem Vor- haben hindern wird, die marokkanische Regierung bei der Einführung aller derjenigen administrativen, gerichtlichen, wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Reformen zu unterstützen, die zu einer guten Regierung des Reiches erforderlich sind. Das gleiche gilt für alle neuen Verordnungen oder Veränderungen bestehender Verordnungen, die diese Reformen mit sich bringen. Demgemäß gibt die Kaiserlich Deutsche Regierung ihre Zustimmung zu Maßnahmen, welche die Französische Regierung 1nach Einigung mit der Marokkanischen Regierung auf dem Gebiete der Reorganisation, Überwachung und finanziellen Sicherstellung ergreifen zu müssen glaubt, unter dem Vorbehalte, daß das Vorgehen Frankreichs die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Nationen unangetastet läßt.

Für den Fall, daß Frankreich sich veranlaßt sehen sollte, seine Kontrolle und seinen Schutz schärfer zum Ausdruck zu bringen und auszudehnen, wird die Kaiserlich Deutsche Regierung in Anerkennung der vollen Aktionsfreiheit Frankreichs und unter dem Vorbehalte, daß die in den früheren Verträgen vorgesehene Handelsfreiheit aufrechterhalten bleibt, dem kein Hindernis in den Weg legen.

Es versteht sich, daß die Rechte und der Wirkungskreis der marokkanischen Staatsbank, wie sie in der Algecirasakte festgesetzt sind, in keiner Weise beeinträchtigt werden sollen.

Artikel 2.

In diesem Sinne herrscht Einverständnis darüber, daß die Kaiserliche Regierung keinen Einwand dagegen erheben wird, wenn Frankreich nach Verständigung mit der Marokkanischen Regierung zu denjenigen militärischen Besetzungen marokkanischen Gebiets schreitet, die es für die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Sicherheit des Handels für notwendig erachten sollte. Das gleiche gilt für alle polizeilichen Maßnahmen zu Lande und in den marokkanischen Gewässern.

Artikel 3.

Für den Fall, daß Seine Majestät der Sultan von Marokko den diplomatischen und konsularischen Beamten Frankreichs die Vertretung und den Schutz der marokkanischen Untertanen und Interessen im Ausland anvertrauen sollte, erklärt die Kaiserliche Regierung schon jetzt, daß sie dagegen keinen Einwand erheben wird.

Wenn andererseits Seine Majestät der Sultan von Marokko dem Vertreter Frankreichs bei der Marokkanischen Regierung die Aufgabe übertragen sollte, sein Vermittler gegenüber den fremden Vertretern zu sein, würde die Deutsche Regierung dagegen keinen Einwand erheben.

Artikel 4.

Die Französische Regierung erklärt, daß sie, entschlossen, unverbrüchlich an dem Grundsatz der Handelsfreiheit in Marokko festzuhalte, keinerlei ungleichmäßige Behandlung bei der Einführung von Zöllen, Steuern und anderen Abgaben, noch bei der Festsetzung der Tarife für Transporte auf Eisenbahnen, Flußschiffahrts- oder allen anderen Verkehrswegen, ebensowenig wie in allen Fragen des Durchgangsverkehrs, zulassen wird.
Desgleichen wird sich die Französische Regierung bei der Marokkanischen Regierung dafür verwenden, daß jede unterschiedliche Behandlung von Angehörigen der verschiedenen Mächte vermieden wird; sie wird sich namentlich jeder Maßnahme widersetzen, die, wie zum Beispiel der Erlaß administrativer Verordnungen, betreffend Maß und Gewicht, Eichverfahren, Punzierung von Edelmetallwaren usw…, die Waren eines Staates in ihrer Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen könnten.

Die Französische Regierung verpflichtet sich, ihren Einfluß auf die Staatsbank dahin geltend zu machen, daß diese der Reihe nach den Mitliedern ihrer Direktion in Tanger die Posten eines Delegierten überträgt, über die sie bei der „,commission des valeurs douanières“ und dem „comité ermanent des douanes“ verfügt.

Artikel 5.

Die Französische Regierung wird dafür sorgen, daß in Marokko keinerlei Ausfuhrabgaben für die aus marokkanischen Häfen ausgeführten Eisenerze erhoben werden. Eisenerzbergwerke haben weder für Förderung noch für Betriebsmittel irgendeine besondere Abgabe zu tragen. Sie werden, außer den allgemeinen Steuern, nur eine nach Hektar und Jahr berechnete feste Abgabe und eine Steuer nach Maßgabe des Bruttoertrags entrichten. Diese Abgaben, die den Vorschriften der Artikel 35 und 49 des dem Protokoll der Pariser Konferenz vom 7. Juni 1910 angeschlossenen Berggesetzentwurfs zu entsprechen haben, sind in gleicher Weise von allen Bergwerksunternehmungen zu tragen.

Die Französische Regierung wird dafür sorgen, daß die Bergwerksabgaben regelmäßig erhoben werden, ohne daß ein ganzer oder teilweiser Nachlaß dieser Abgaben unter welchem Vorwand auch immer, zugunsten einzelner bewilligt werden könnte.

Artikel 6.

Die Regierung der Französischen Republik verpflichtet sich, dafür zu sorgen, daß die Arbeiten und Lieferungen, die für den etwaigen Bau von Straßen, Eisenbahnen, Häfen, Telegraphenleitungen usw. .. . benötigt werden, durch die Marokkanische Regierung auf dem Submissionsweg vergeben werden.

Sie verpflichtet sich ferner, dafür zu sorgen, daß die Submissionsbedingungen, besonders was die Materiallieferung und die Fristen für Submissionsangebote betrifft, die Angehörigen keines Staates benachteiligen.
Die Ausbeutung der oben erwähnten großen Unternehmungen bleibt dem Marokkanischen Staate vorbehalten oder wird von ihm frei an Dritte übertragen, die damit beauftragt werden können, die zu diesem Zwecke benötigen Mittel zu beschaffen. Die Französische Regierung wird dafür sorgen, daß bei dem Betriebe der Eisenbahnen und anderer Verkehrsmittel, wie bei der Anwendung der zur Regelung ihres Betriebes bestimmten Verordnungen keinerlei unterschiedliche Behandlung der Angehörigen der verschiedenen Staaten, die von diesen Transportmitteln Gebrauch machen, eintritt.

Die Regierung der Republik wird ihren Einfluß bei der Staatsbank dahin geltend machen, daß diese der Reihe nach den Mitgliedern ihrer Direktion in Tanger den Posten eines Delegierten überträgt, über den sie bei der „commission générale des adjudications et marchés“ verfügt. Ebenso wird die Französische Regierung sich bei der marokkanischen Regierung dafür verwenden, daß diese für die Geltungsdauer des Artikels 66 der Algecirasakte einem Angehörigen der in Marokko vertretenen Mächte einen der drei Posten eines scherifischen Delegierten bei dem ,comité spécial des travaux publics überträgt.

Artikel 7.

Die Französische Regierung wird bei der marokkanischen Regierung dafür eintreten, daß die Eigentümer von Bergwerken, sowie von anderen industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmungen ohne Unterschied ihrer Staatsangehörigkeit ermächtigt werden können, nach Maßgabe von Reglements, die nach dem Vorbild der diesbezüglichen französischen Gesetzgebung erlassen werden sollen, für ihren Betrieb Eisenbahnen zu bauen, die ihre Produktionszentren mit den allgemeinen Verkehrslinien und den Häfen verbinden.

Artikel 8.

Über die Eisenbahnen in Marokko wird jährlich ein Bericht ausgegeben werden, welcher in den gleichen Formen und unter denselben Bedingungen aufzustellen ist, wie die von den französischen Eisenbahngesellschaften den Generalversammlungen ihrer Aktionäre vorgelegten Berichte.

Die Regierung der Republik wird einen Administrator der marokkanischen Staatsbank mit der Aufstellung dieses Berichts beauftragen. Dieser ist mit seinen Unterlagen den Zensoren mitzuteilen und dann gegebenen- falls mit den Bemerkungen, die diese letzteren auf Grund eigener Ermittelungen ihm zufügen zu müssen glauben, zu veröffentlichen.

Artikel 9.

Um nach Möglichkeit diplomatische Reklamationen zu vermeiden, wird die Französische Regierung bei der Marokkanischen dafür eintreten, daß diese einem für jede Angelegenheit durch den französischen Konsul im Einvernehmen mit dem Konsul der beteiligten Macht oder mangels Einverständnisses durch die beiden Regierungen ad hoc bestimmten Schiedsrichter die Klagen unterbreitet, die von fremden Staatsangehörigen gegen marokkanische Behörden oder als marokkanische Behörden fungierende andere Beamte erhoben werden, sofern sie sich durch die Vermittlung des französischen Konsuls und des Konsuls der beteiligten Macht nicht haben regeln lassen.

Dieses Verfahren bleibt bis zur Einführung einer Rechtsordnung in Kraft, die sich nach dem Vorbild der allgemeinen Grundsätze der Gesetzgebung der beteiligten Mächte richten und dann bestimmt sein wird, nach vorhergegangener Verständigung mit diesen, die Konsulargerichte zu ersetzen.

Artikel 10.

Die Französische Regierung wird dafür sorgen, daß die fremden Staatsangehörigen das Recht der Fischerei in den marokkanischen Gewässern und Häfen auch weiterhin ausüben dürfen.

Artikel 11.

Die Französische Regierung wird bei der Marokkanischen Regierung da- für eintreten, daß diese dem auswärtigen Handel nach Maßgabe seiner Bedürfnisse neue Häfen öffnet.

Artikel 12.

Um einem Ersuchen der Marokkanischen Regierung zu entsprechen, verpflichten sich beide Regierungen, in Übereinstimmung mit den anderen Mächten auf der Grundlage der Madrider Konvention eine Prüfung der Listen und der Stellung der in den Artikeln 8 und 10 dieser Konvention erwähnten fremden Schutzgenossen und Mochalaten zu veranlassen.

Sie kommen ferner überein, bei den Signatarmächten jede Modifikation der Madrider Konvention zu befürworten, die sich aus einer in einem späteren Zeitpunkt etwa notwendig werdenden Änderung des Systems der Schutzbefohlenen und Mochalaten ergeben würde.

Artikel 13.

Alle Klauseln einer Verständigung oder einer Vereinbarung, eines Vertrags oder einer Verordnung, die den vorstehenden Bestimmungen zuwiderlaufen sollten, sind und bleiben aufgehoben.

Artikel 14.

Die vorstehende Vereinbarung wird den anderen Signatarmächten der Algecirasakte mitgeteilt werden, wobei beide Regierungen sich verpflichten, sich gegenseitig ihre Unterstützung zu leihen, um den Beitritt dieser Mächte zu erlangen.

Artikel 15.

Das vorliegende Abkommen ist zu ratifizieren. Die Ratifikationsurkunden sind sobald wie möglich in Paris auszutauschen.

So geschehen in doppelter Ausfertigung zu Berlin, am 4. November 1911.

(L.S.) Kiderlen.

(L. S.) Jules Cambon.

Quellenangaben:

  • Nouveau Recueil de Traités et autres actes relatifs aux rapports de droit international. Continuation du grand recueil de G. Fr. de Martens par Heinrich Triepel. Bd. 5. Leipzig. Buchhandlung Dietrich Theodor Weicher 1912 S. 643.
  • „Deutschland und Europa 1890 – 1914“ von Friedrich Stieve, Verlag für Kulturpolitik/Berlin 1926

Ähnliche Beiträge

Vorherige SeiteNächste Seite
Marokkoabkommen vom 9. Februar 1909Versailler Vertrag betreffs Marokko 1919

Kommentar verfassen