Die Hintergründe und ganzen Ursachen der ersten Marokkokrise 1904 – 1906 und die Ergebnisse der Algeciras-Konferenz 1906
„Kaiser Wilhelm II. löst durch einen Besuch in Tanger (Marokko) die Erste Marokkokrise aus…“ Diesen Vorwurf finden wir bis heute in vielen geschichtlichen Artikeln und Beiträgen, aber stimmt diese Aussage so wirklich? Betrachten wir also die ganze Vorgeschichte der Ersten Marokkokrise.
Kaiser Wilhelm II.
* 27.01.1859 in Berlin,
† 04.06.1941 in Doorn (Niederlande),
1888 – 1918 Deutscher Kaiser und König von Preußen
Wilhelm II. nahm später in seinen veröffentlichte Lebenserinnerungen selbst dazu Stellung: „Ich bin Ihnen zuliebe, und weil es das Vaterland erheischte, gelandet […] auf ein fremdes Pferd trotz meiner durch den verkrüppelten linken Arm behinderten Reitfähigkeit gestiegen, und das Pferd hätte mich um ein Haar ums Leben gebracht […] Ich ritt mitten zwischen den spanischen Anarchisten durch, zwischen Gaunern und Abenteurern, weil Sie es wollten, und Ihre Politik davon profitierte sollte„; so warf es Kaiser Wilhelm II. später seinem damaligen Reichskanzler Fürst von Bülow vor. Tatsächlich hat das Deutsche Reich von dieser Landung keineswegs langfristig profitiert, im Gegenteil, es erschien damals wie heute allen als Provokateur und Friedensstörer; dabei war das Recht auf seiner Seite! Frankreich hatte sich in Geheimabsprachen und somit völlig vertragswidrig bei Spanien, Großbritannien und Italien freie Hand zur „friedlichen Durchdringung“ in Marokko gesichert.
Bernhard Fürst von Bülow
* 03.05.1849 in Klein-Flottbek bei Altona,
† 28.10.1929 in Rom;
vierter Reichskanzler vom 17.10.1900 bis 14.07.1909
Ein „Reformprogramm“ für den Staat des Sultans Abdel Azis verschaffte ihm den Zugang. Deutschland sah sich ausgegrenzt und seine wirtschaftlichen Interessen und diese „sind erheblich“ (von Bülow) verletzt. Interessant, da entscheidend für das weitere Schicksal Deutschlands, ist der allmähliche Weg in diese Krise:
Am 3. Juli 1880 regelte in Madrid eine Konvention des Sultans von Marokko mit den Staaten Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande und USA die Unabhängigkeit und den Besitzstand seines Landes sowie die dortigen Rechte der Ausländer. Zur gleichen Zeit schlossen Deutschland und Marokko ein Handelsabkommen.
Die Annäherungsbestrebungen zwischen Großbritannien und Frankreich fielen in ihren Anfängen mit einer anderen für Deutschland verhängnisvollen Entwicklung zusammen. 1892 hatte sich der britische Premierminister von dem Mittelmeerabkommen mit Italien und Österreich-Ungarn, losgesagt. Dadurch wurde Italien mit dem Rivalen Frankreich alleingelassen und verlor ihm gegenüber den nötigen Rückhalt. Nun gewannen die Bemühungen Frankreichs, dem lateinischen Nebenbuhler durch alle erdenklichen Schikanen das Leben schwer zu machen, allmählich Erfolg. Italien musste, zumal es im Mittelmeergebiet seinerseits auf Eroberungen ausging, mit dem stärkeren Nachbarn eine Verständigung suchen. Schon 1900 begann dieser Prozess Früchte zu tragen und zwar im Anschluss an das englisch-französische Abkommen von 1899. Als dann zu Beginn des Jahres 1902 der Dreibund erneuert werden sollte verlangte der italienische Minister Prinetti die Einfügung einer neuen Bestimmung, aus der hervorgehen sollte, „dass Italien keine Verpflichtungen übernommen habe, die Frankreich gefährlich werden könnten„.
Daneben wollte er von Deutschland noch das Versprechen einer Aufrechterhaltung des bestehenden Zustandes im nahen Orient erwirken. In Berlin und Wien lehnte man jedoch jede Änderung des Vertragstextes ab, und es gelang, Rom zum Nachgeben zu bringen und die Verlängerung des Dreibundes in der bisherigen Form am 28. Juli 1902 durchzusetzen. Kaum war dies geschehen, teilte Prinetti den Franzosen mit, dass sein Land keinerlei gegen Frankreich gerichtete Abmachungen getroffen habe. Und wenige Monate nachher, am 1. November 1902 fand zwischen Rom und Paris ein Notenwechsel statt, auf Grund dessen Italien in Tripolis und der Cyrenaika (östliches Libyen) und Frankreich in Marokko das Recht haben sollten, „ihre Einflusssphären … im geeigneten Augenblick“ frei auszudehnen.
Die Folgen dieser Abmachung zum Zwecke ungehinderter gegenseitiger Ausdehnung im Mittelmeergebiet waren zweifacher Art. Einmal wurde Italien von jetzt ab ein höchst unsicheres Mitglied im Dreibund, was natürlich noch zunahm, als Großbritannien sich Frankreich näherte. Auf der anderen Seite hatte Frankreich einen großen Vorteil zu verzeichnen. Es war ihm gelungen, eine zweite Bresche in das Bollwerk Otto von Bismarcks zu schlagen und auch im Süden die Mauer der eigenen Isolierung zu durchbrechen. Paris fasste den Vertrag als ein italienisches Neutralitätsversprechen für den Fall eines zukünftigen deutsch-französischen Krieges auf.
Die Einigung über Marokko war seit 1901 langsam fortgeschritten. Am 10. Mai 1903 hatte Freiherr von Eckardtstein in einem Bericht an Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow die Ansicht ausgesprochen, „dass die früheren englisch-französischen Verhandlungen behufs Ausgleichs schwebender Differenzen wieder aufgenommen worden sind und dieses Mal große Aussicht auf Erfolg haben.“ Kurz zuvor war der englische König Eduard VII. bei einem Besuch in Paris äußerst freundlich empfangen worden. Im Herbst des gleichen Jahres verlautete aus London, der französische Minister Delcassé habe den Briten einen Vorschlag zu einer kolonialen Verständigung unterbreiten lassen, habe aber von Lord Lansdowne eine ablehnende Antwort erhaltenen.
König Eduard VII.
* 09.11.1841 in London,
† 06.05.1910 in London;
König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland und Kaiser von Indien. Galt trotz seiner deutschen Abstammung als frankophil und mochte seinen Neffen Kaiser Wilhelm II. nicht sonderlich.
Am 8. April 1904 war die Einigung bereits vollzogen. An diesem Tage wurden von Frankreich und Großbritannien Verträge (Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich über Ägypten und Marokko vom 8. April 1904) unterzeichnet, die sämtliche Streitfragen bereinigten, die zwischen beiden Ländern bisher in fremden Erdteilen bestanden hatten. Die gegenseitigen Ansprüche in Neufundland, Madagaskar, den Neu-Hebriden und Siam wurden in Übereinstimmung gebracht. Vor allem aber kam es zu einem Abkommen über die Einflussgebiete in Nordafrika. Frankreich gestand den Briten freie Hand in Ägypten zu, und Großbritannien bewilligte Frankreich das gleiche im Hinblick auf Marokko, indem es ihr zuerkannte, dort selbst „über die Ruhe zu wachen“ und „bei allen Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Militärreformen Beistand zu leisten„. Diese Vereinbarungen wurden alsbald veröffentlicht. Zur selben Zeit war aber noch eine geheime Abmachung (Geheimabkommen vom 8. April 1904) getroffen worden, die erst im Jahre 1911 bekannt gegeben wurde und noch viel weiter ging. Danach hatte die britische Regierung das Recht, zum Zweck der Befestigung ihrer Herrschaft in Ägypten bestimmte Reformen durchzuführen, während andererseits die französische Regierung Vorschläge vorlegen konnte, die für sie den gleichen Zweck in Marokko verfolgten. Außerdem sollte Spanien, um es ruhigzustellen, ein Teil von Marokko angeboten werden.
Georges Clemenceau
* 28.09.1841 in Mouilleron-en-Pareds,
† 24.11.1929 in Paris,
französischer Ministerpräsident 1906 – 1909, Ministerpräsidenten und Kriegsminister 1917 – 1920, Vorsitzende während der Versailler Verhandlungen der Siegermächte 1919.
Die hier kurz wiedergegebenen Abmachungen bedeuteten nicht bloß eine vollständige Beseitigung aller zwischen Großbritannien und Frankreich bisher bestehenden Differenzen, sondern darüber hinaus einen engen Zusammenschluss für die Zukunft. Die zwei Staaten sagten sich diplomatische Unterstützung für ihre Absichten in Ägypten und Marokko zu und wollten somit ihre Interessen gemeinsam gegen etwaige Einmischungen fremder Mächte wahren. Ein allgemeines Bündnis lag nicht vor, wohl aber das, was man eine „entente cordiale“ (ein herzliches Einvernehmen) nannte. Die politische Lage hatte sich dadurch mit einem Schlage verändert. Die beiden westlichen Mächte Europas hatten sich die Hand gereicht und der für Deutschlands Sicherung immer besonders günstige Umstand des britisch-französischen Gegensatzes war verschwunden.
Vor allem für Frankreich war das ein neuer überaus großer Gewinn, und Delcassé, ein eifriger Anhänger des Gedankens einer Revanche am deutschen Nachbarn, musste mit seinem Erfolg wahrhaft zufrieden sein. Er hat schon damals angestrebt das „herzliche Einvernehmen“ auch auf Russland auszudehnen. Darauf konnte man in London, schon aus Rücksicht auf Japan, das mit dem Zarenreich grade im Krieg lag, noch nicht eingehen. Sehr bald gelang es Delcassé aber, dem Zusammengehen mit Großbritannien eine, immer schärfere Spitze gegen Deutschland zu verleihen.
Théophile Delcassé
* 01.03. 1852 in Pamiers,
† 22.02.1923 in Nizza;
französischer Außen- und Kriegsminister, betrieb eine unversöhnliche antideutsche Politik
In Berlin versuchte man nun das Abschwenken Großbritanniens durch einen Gegenschachzug unschädlich zu machen. Die Stellung Russlands in Ostasien war von Monat zu Monat immer schwieriger geworden. Der Russisch-Japanischer Krieg 1904/05 endete nach einer Reihe verlustreicher Schlachten im Sommer 1905 mit der Niederlage des Zarenreiches. Als es dann infolge der irrtümlichen Beschießung englischer Fischerboote bei der Doggerbank durch russische Kriegsschiffe im Oktober 1904 zu einem erregten Zwischenfall zwischen London und Petersburg kam, benutzte Kaiser Wilhelm II. den Augenblick, um dem Zaren Nikolaus II. in einem vom Auswärtigen Amt gebilligten Telegramm vom 27. Oktober 1904 die schon früher vertretene Idee eines Zusammenschlusses der drei Kontinentalmächte Deutschland, Russland und Frankreich näher zu bringen.
Der Zar stimmte in umgehender Antwort zu und bat ihn die Grundlinien für eine solche Abmachung zu übersenden. Dies geschah dann auch durch einen Brief des Wilhelm II., der den Entwurf zu einem Defensivvertrag zwischen Deutschland und Russland enthielt. Im Anschluss hieran erfolgte ein ziemlich ausführlicher Schriftwechsel. Dabei stellte es sich heraus, dass der in Aussicht genommene Beitritt Frankreichs zu dem Übereinkommen der wunde Punkt bei dem ganzen Plan war. Am 23. November verlangte Nikolaus II., man solle den Vertrag vor der Unterzeichnung erst Paris mitteilen. Dies aber wurde deutscher Seite mit Recht als gefährlich abgelehnt und somit verliefen die Bemühungen im Sande. Der russische Außenminister Wladimir Graf Lamsdorff hatte zu diesem negativen Ergebnis zweifellos beigetragen.
Zar Nikolaus II.
* 18.05.1868 in Zarskoje Selo bei St. Petersburg,
† 16.07.1918 in Jekaterinburg ermordet;
1894 – 1917 russischer Zar (Kaiser).
Inzwischen begannen die Franzosen ihre Abmachungen mit den Briten durchzusetzen. Sie gingen allmählich dazu über, sich in Marokko auszubreiten und jene Politik der stillen Aneignung durchzuführen, der man den schönen Namen der „friedlichen Durchdringung“ beilegte. Am 3. Oktober 1904 erreichten sie eine Vereinbarung mit Spanien, dem der Hauptsache nach der Küstenstreifen im Norden Marokkos mit Ausnahme von Fez zugesprochen wurde. Das gesamte Vorgehen stand ebenso wie der Geheimvertrag zwischen London und Paris im direkten Widerspruch zu den früheren in Madrid getroffenen Abmachungen der Mächte über das einschlägige nordafrikanische Gebiet, durch die festgesetzt worden war, dass kein einzelnes Land ohne die Zustimmung der übrigen die internationalen Verträge durchbrechen dürfe.
Tanger (spr. tándschĕr, arab. Tandscha) ist eine Küstenstadt in Marokko, an der Straße von Gibraltar gelegen und von starken, alten Ringmauern mit drei Toren umgeben. Die Stadt hat eine teilweise verfallene Zitadelle, unregelmäßige, steile, aber zum Teil elektrisch erleuchtete Straßen, Moscheen, Franziskanerkloster mit Kapelle, Synagogen, eine katholische und eine protestantische Kirche, mehrere Bankinstitute, europäische Gasthäuser, ein Krankenhaus, deutsches, französisches, spanisches und englisches Postamt, die beiden letzteren auch Telegraphenstation und ist Sitz des diplomatischen Korps (für Deutschland ein Gesandter) für Marokko, des Vertreters des Sultans für auswärtige Angelegenheiten. Im Jahr 1900 leben in Tanger 20.000 (nach andern Quellen 35.000) Einwohner, darunter 8000 Juden, 6000 Europäer, meist Spanier und 6000 Moslems (eine Anzahl sind Sklaven). Die aus Einheimischen gebildete Polizei untersteht nach den Bestimmungen der Algeciras-Akte (1906) französisch-spanischer Aufsicht. Der trotz schwerer Kruppscher Geschütze kaum geschützte Hafen ist klein, von geringer Tiefe, den Nordwinden ausgesetzt; die ziemlich geräumige Reede droht zu versanden; der notwendige Molenbau ist 1905 einer deutschen Firma übertragen. Dennoch ist Tanger der bedeutendste Seehandelsplatz Marokkos. Es laufen ihn an deutsche (4 Linien), englische, französische, spanische und italienische Dampfer. Seit 1873 ist Tanger Sitz eines deutschen Generalkonsuls.
Als nun klar wurde, dass die Französische Republik, gestützt auf Großbritannien, eigenmächtig verfuhr und ihren Einfluss nach Belieben ausdehnte, während Deutschland einfach übergangen wurde, entschloss sich die deutsche Regierung in Berlin im Frühjahr 1905 zu einer weithin sichtbaren Geste des Protestes, indem der Kaiser in Marokko Präsenz zeigen sollte. Der Plan entsprang den Überlegungen Friedrich von Holsteins, einem der einflussreichsten Außenpolitiker des Deutschen Reiches. Kaiser Wilhelm II. gefällt eine so gewagte Provokation ganz und gar nicht, auch sieht er die negativen Folgen für Deutschland voraus, die durch sein Auftreten speziell in Frankreich hervorgerufen würden: den antideutschen Chauvinismus. Auch für seinen Freund Eulenburg ist der Plan der „helle Wahnsinn“, zudem sorgt er sich um den Kaiser, der durch seinen verkürzten Arm, körperlich behindert ist und vor Marokko auf hoher See von einem Dampfer in ein Ruderboot umsteigen müsste.
Auch wollen die Sicherheitsbeamten des Kaisers keine Verantwortung dafür tragen, dass Wilhelm II. auf einem unbekannten Pferd durch die von Chauvinisten und Anarchisten gesäumten engen Straßen von Tanger reitet und somit ein gutes Ziel für Attentäter abgibt. Aber Deutschland ist eine parlamentarische Monarchie, die Regierung entscheidet und Wilhelm II. fügte sich dem Wunsch seines Reichskanzlers Bernhard Fürst von Bülow. Während der Reise auf einem gecharterten Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie kommen Wilhelm II. erneut bedenken über die Notwendigkeit der Aktion, aber auf telegrafische Rückfrage antwortet Bülow, dass der Kaiser das beschlossene Programm in Marokko durchführen müsse. Am 31. März 1905 traf Wilhelm II. mit dem Dampfer „Hamburg“ in Tanger ein. Hier traten die von Eulenburg befürchtet Probleme beim Umstieg auf die Pinasse ein.
Wegen des Seegangs wird der Kaiser, ebenso wie der deutsche Geschäftsträger in Tanger Richard von Kühlmann, von den hochschlagenden Wellen durchnässt. Was sich nach der Landung abspielte, schilderte Wilhelm II. selbst: „Auf einem kleinen Platz stand eine Menge von Spaniern mit Fahnen und großem Geschrei, die nach Aussagen eines begleitenden Sicherheitsbeamten die versammelten spanischen Anarchisten waren. Bei meinem Ritt durch die schmalen Straßen setzte sich das Schreien mit Flintenschüssen der Kabylen fort, begleitet von dem dumpfen Bumm der Militärkapellen. Mein Pferd wurde nervös und unruhig; mehrmals scheute es beim Tücherschwenken der wenig vertrauenerweckend aussehenden Zuschauer. Doch das Wunder geschah, ohne Zwischenfall gelangte ich ins Sultanschloss.„
Der Empfang war würdevoll, und der Kaiser sagte mit deutlicher Spitze gegen Frankreich, er hoffe, dass unter der Herrschaft des Sultans „ein freies, souveränes Marokko der friedlichen Konkurrenz aller Mächte geöffnet wird„. Dann ritt er durch fahnengeschmückte Straßen zur deutschen Gesandtschaft. Vor einer versammelten Menge brachte er den Wunsch nach „Handel auf dem Boden der Gleichberechtigung“ zum Ausdruck.
Die Leiter der deutschen Politik bezweckten mit diesem geräuschvollen Auftritt lediglich, die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Land seinerseits berechtigt sei, mitzureden und gewisse Ansprüche zu erheben. Auf der Gegenseite aber wurde das plötzliche und theatralische Hervorkehren dieses wohlbegründeten Wunsches dahin gedeutet, dass Deutschland ernstlich beabsichtige Frankreich in den Weg zu treten, und die britische, wie auch die französische Presse erhob ein lautes Geschrei der Entrüstung.
Delcassé der geistige Vater der Pariser Marokkopolitik, benutzte sofort die Gelegenheit, um von Großbritannien wichtige Zugeständnisse für eine etwaige kriegerische Unterstützung zu gewinnen. Tatsächlich bewilligte ihm die englische Regierung unmittelbare Besprechungen zwischen dem französischen Marineattaché in London und dem Leiter der britischen Admiralität, Lord Fisher, sowie Besprechungen durch einen Mittelsmann zwischen dem französischen Militärattaché in London und dem britischen Kriegsamt. Was bei diesen Besprechungen ausgemacht wurde, weiß man bis heute nicht mit Sicherheit, denn die Angaben darüber sind verschieden. Wahrscheinlich wurde bereits zu jener Zeit für den Fall des bewaffneten Zusammenstoßes zwischen Frankreich und Deutschland die Landung englischer Truppen auf dem Kontinent in Aussicht gestellt.
In Berlin, wo man weit davon entfernt war in den Krieg zu ziehen, beharrte man bei der einmal eingenommenen Haltung und erreichte schließlich durch nachhaltigen Druck, dass Delcassé Anfang Juni 1905 zurücktreten musste. Der französische Premierminister Rouvier und die Mehrheit der Minister entschieden sich für eine Verständigung mit Deutschland. Rouvier wünschte in direkte Verhandlungen mit Deutschland einzutreten und machte durch Vermittlung des früheren italienischen Schatzministers Luzzatti Deutschland die verlockendsten Angebote: zwar solle der Großteil Marokkos dem französischen Einfluss überlassen werden, doch ein Teil als „Maghzen“ die Souveränität behalten und Deutschland die Besitznahme zweier Häfen, darunter Casablancas, freistehen, außerdem sollten ihm Zugeständnisse im Kongogebiet zugunsten seiner Kolonie Kamerun gemacht werden.
Maurice Rouvier
* 17.04.1842 in Aix-en-Provence,
† 07.06.1911 in Neuilly-sur-Seine;
1905 – 1906 Premierminister Frankreichs
Das war unstreitig ein Erfolg der Reise Kaiser Wilhelms II. nach Tanger, denn so verschwand in Paris mit Delcassé ein geschickter und entschlossener Gegner und Frankreich zeigte sich verhandlungswillig. Die Tangerreise hätte also ein voller Erfolg werden können, aber nun begingen die Deutschen einen schwerwiegenden Fehler: Anstatt mit den Franzosen, die eine diplomatische Niederlage erlitten hatten, direkt zu verhandeln und sich zu einigen, versteifte man sich unter Berufung auf den Grundsatz, dass in Marokko allen Nationen die wirtschaftliche Gleichberechtigung zustehe, auf den Vorschlag einer internationalen Konferenz, bei der eben auch alle zu Worte kommen sollten.
Edward Grey
* 25.04.1862 in London,
† 07.09.1933 in Fallodon,
britischer Minister (1905–1916), seine Politik war von einer Eindämmung des Deutschen Reiches geprägt.
Gegen Ende des Jahres 1905 wurde das konservative Ministerium in Großbritannien, das bisher am Ruder war, gestürzt und ein liberales trat unter der Führung Campbell-Bannermans an seine Stelle. Der neue Sir E. Grey, hatte kaum sein Amt angetreten, als ihm der französische Botschafter in London, Paul Cambon, im Auftrage seiner Regierung die Frage vorlegte, inwieweit Großbritannien bereit sei, Frankreich „bewaffnete Unterstützung zu gewähren„, falls es auf der demnächst beginnenden Konferenz in Algeciras zum Bruch zwischen Paris und Berlin und infolgedessen zu einem Kriege mit Deutschland komme.
Grey, der nach seinen Angaben die Lage noch nicht übersah, antwortete etwas vage, vermied eine bestimmte Zusage, äußerte aber als seine „persönliche Anschauung„‚, „dass die öffentliche Meinung Englands sich sehr zugunsten Frankreich regen würde, wenn Deutschland Frankreich im Gefolge einer Frage angriffe„, die aus dem englisch-französischen Übereinkommen über Ägypten und Marokko entstände. Was geschehen werde, müsse von den Umständen abhängen. Zum Schluss, erklärte er es „für ratsam„, wenn in der Zwischenzeit ein inoffizieller Gedankenaustausch zwischen der englischen Admiralität und dem englischen Kriegsministerium einerseits und den französischen Marine- und Militärattachés andererseits stattfände, um zu beraten, was Vorteilhafterweise zu geschehen hätte, wenn die beiden Länder in einem Krieg gegen Deutschland verbündet wären. Das war natürlich ein weitgehendes Entgegenkommen gegenüber den französischen Wünschen. Grey knüpfte an die bereits von Lansdowne bewilligten Bestrebungen an und räumte, über den früheren Zustand hinausgehend, auch auf militärischem Gebiet die direkte Verständigung ein, die bisher nur zwischen den beiderseitigen Admiralstäben stattgefunden hatte.
Campbell-Bannerman hegte, als er von der Sache erfuhr, die Befürchtung, dass derartige Besprechungen für Großbritannien eine „Verpflichtung Frankreich gegenüber oder mindestens eine Art stillen Einverständnisses schaffen könnten„. Und Grey selbst gibt ihm später insofern recht, als er eingesteht, er hätte, „bei größerer Erfahrung“ wohl diese Besorgnis geteilt. War es nun wirklich die Unerfahrenheit des neuen Außenministers oder ein Ausfluss seiner eigenen, gleichfalls offen eingestandenen Überzeugung, dass Großbritannien Frankreich „zu Hilfe kommen musste„, wenn Deutschland letzteres zum Kriege zwang, jedenfalls führte der Schritt Greys zu dem für Deutschland verhängnisvollen Ergebnis, dass die Beratungen zwischen den englischen und französischen General- und Marinestäben sehr bald fest umrissene und genau ausgearbeitete Vereinbarungen über Aktionen zu Land und zur See zeitigten, die gemeinsam bei einem bewaffneten Zusammenstoß mit Deutschland unternommen werden sollten.
Algeciras-Konferenz 1906
Algeciras (spr. alchedsīras) ist eine Bezirkshauptstadt in der spanischen Provinz Cadiz, am gleichnamigen Golf des Mittelmeeres (auch Golf von Gibraltar genannt). Die Stadt liegt an der Eisenbahn Bobadilla-Algeciras, hat einen durch Forts verteidigten Hafen, eine Wasserleitung und (1897) 12.778 Einwohner, die lebhaften Handel mit Steinkohlen, Leder und Getreide treiben. In Algeciras residieren der General- und der Marinekommandant des Campo de San Roque, d.h. des nach der Stadt San Roque benannten Grenzbezirks gegen Gibraltar. Hier im Hotel Reina Maria Cristina, das noch heute existiert, fand Anfang 1906 die Algeciras-Konferenz statt.
Als die Algeciras-Konferenz über Marokko am 16. Januar 1906 eröffnet wurde, zeigte es sich mit erschreckender Klarheit, dass Deutschland in diplomatischer Hinsicht nur auf die Unterstützung Österreich-Ungarns rechnen konnte. Die übrigen Staaten hielten zu Frankreich: Russland und Großbritannien, weil sie mehr oder weniger enge Verbündete waren, Spanien, weil es sich mit Frankreich bereits über eine Aufteilung Marokkos geeinigt hatte und vor allem nichts gegen Großbritannien wagte und Italien, weil es an seine kolonialen Interessen in Tripolis (Libyen) dachte. So stieß, der von Berlin aus verfochtene Standpunkt einer möglichst weitgehenden Gleichberechtigung der Staaten nur auf leere Befürwortung und die Wünsche der Gegenseite gewannen die Oberhand.
Wohl wurden die Unabhängigkeit des Sultans von Marokko und der Grundsatz der offenen Tür in wirtschaftlicher Beziehung der Form nach anerkannt. Aber die polizeiliche Überwachung der Häfen Marokkos ging an Frankreich und Spanien über und auch auf finanziellem Gebiet erreichte Frankreich wichtige Zugeständnisse.
Fritz von Holstein
* 24.04.1837 in Schwedt an der Oder,
† 08.05.1909 in Berlin;
Diplomat der zwischen 1890 und 1906 die deutsche Außenpolitik stark beeinflusste, da er nie öffentlich in Erscheinung trat, wurde er auch „Graue Eminenz“ genannt.
Fritz von Holstein, der während der Verhandlungen erkennen musste, in welche ungünstige Lage Deutschland durch seine Strategie hineingeraten war, trat dafür ein, dass Deutschland die Konferenz zum Scheitern lassen bringen soll. Als dieser Gedanke abgelehnt wurde, bat er um seinen Abschied, der ihm am 8. April 1906 gegen seine Erwartungen auch bewilligt wurde. So schied er aus seiner langjährigen Tätigkeit aus und starb einige Jahre darauf, am 8. Mai 1909 in Berlin, in schwerer Verbitterung und fast völliger Einsamkeit. Zum Unglück erfolgte sein Rücktritt erst zu einer Zeit, wo die verhängnisvollen Fehler, die er begangen hatte, gar nicht mehr wieder gut gemacht werden konnten, Deutschland war nun weitgehend politisch isoliert und diese Isolierung nahm beängstigende Formen an.
In Frankreich kam Clemenceau ans Ruder, chauvinistisch und antideutsch vertrat er die Meinung, „es gebe 20 Millionen Deutsche zu viel auf der Welt„. (Der Spiegel, 1/1995, S. 71) Der neue russische Außenminister Alexander Petrowitsch Iswolski (1856 – 1919) war nach Großbritannien orientiert. Italien praktisch vom Dreibund abgefallen und als Partner wertlos. Großbritannien hatte sich vorbehaltlos hinter Frankreich gestellt, und die Entente gefestigt wie nie zuvor. Die Generalstäbe beider Länder trafen sich von nun an regelmäßig und planten ihr gemeinsames Vorgehen. 1906 lief der erste britische Dreadnought (Furchtlose) vom Stapel; ein Schlachtschiff neuen Typus, das alle anderen, auch die deutschen Schiffe unterlegen machten; das Wettrüsten zur See hatte wieder neu begonnen. 1907 erfolgten weitere militärische Maßnahmen Frankreichs in Marokko. 1911 kam es mit der Besetzung der damaligen marokkanischen Hauptstadt Fes durch französisches Militär zur Zweiten Marokkokrise, in deren Verlauf es zum „Panthersprung nach Agadir“ kam.
Zusammenfassung und Fazit:
Unter Sultan Sidi Mohammed (1859 – 1878) kam es, nachdem noch sein Vorgänger am 9. Dezember 1856 einen Handelsvertrag mit England abgeschlossen hatte, zu einem Handelsvertrag mit Spanien (2. November1861). Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 entstand 1873 ein deutsches Konsulat in Tanger. Unter Mulai Hassan (1873 – 1894) regelte die internationale Konferenz von Madrid durch die Madrider Konvention vom 3. Juli 1880 die Verhältnisse der Ausländer in Marokko und die Erwerbung von Grundbesitz durch sie und sicherte den vertretenen Staaten handelspolitisch das Recht als meistbegünstigte Nation. Ein Handelsvertrag mit dem Deutschen Reich wurde am 1. Juni 1890, ein Handelsübereinkommen mit Frankreich am 24. Oktober 1892 abgeschlossen. Der deutsche Handel, der sich erst seit etwa 1880 erheblich in Marokko betätigte, wuchs daraufhin zusehends und stand um 1900 an dritter Stelle, nach Großbritannien und Frankreich. Auch der deutsche Grundbesitz und die industrielle Tätigkeit, insbesondere durch die Firma Mannesmann, wuchs trotz zunehmender französischer Einflussnahme 1900 – 1914 stetig.
Mit dem Versailler Vertrag 1919 wurde Deutschland ausdrücklich von Marokko ausgeschlossen (Siehe Artikel 141 – 146 des Versailler Vertrages betreffs Marokko). Damit erreichte Frankreich sein seit dem Jahr 1900 verfolgtes Ziel mit dem Erwerb von Marokko sein nordafrikanisches Kolonialreich abzurunden. Frankreich hatte seit Jahrzehnten in die inneren Angelegenheit Marokkos eingegriffen und Delcassé gewann am 8. April 1904 durch ein Abkommen (Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich über Ägypten und Marokko vom 8. April 1904) inklusive einem Geheimabkommen mit Großbritannien die Zustimmung zur „Durchdringung“ Marokkos gegen den Verzicht auf die alten französischen Ansprüche auf Ägypten.
Am 3. Oktober 1904 folgte ein Vertrag Frankreichs mit Spanien, dem ein Teil der Nordküste Marokkos überlassen wurde. Zunächst begnügte sich Spanien mit der Beherrschung der Küstenstädte, da die Marokkaner energischen Widerstand leisteten. Durch das Aufdrängen von weiteren „Reformen“ versuchte Frankreich seinen Einfluss auf Marokko weiter auszubauen, bis im März 1905 Kaiser Wilhelm II. auf Vorgabe der deutschen Regierung in Tanger erschien und die Souveränität des Sultans sowie Deutschland wirtschaftlichen Interessen betonte. Die erste Marokkokrise war die Folge, Delcassé musste zurücktreten und Frankreichs weiteres Vordringen kam kurzzeitig zum Stillstand.
Am 16. Januar 1906 trat auf Vorschlag Deutschlands in Algeciras eine Konferenz der Schutzmächte Marokkos nach der Abmachung von Madrid (1880) zusammen. Zwar erhielt Deutschland in Algeciras die „offene Tür“ zugestanden, aber der Anspruch Frankreichs auf Marokko ließ sich nicht mehr beseitigen. Deutschland war isoliert und fand nur bei Österreich-Ungarn Unterstützung. Das Angebot Deutschlands Marokko gemeinsamen deutsch-französischen Ertragsgesellschaften zu übergeben, lehnten die Franzosen ab und besetzten 1911 sogar die damalige marokkanische Hauptstadt Fes, was zur Zweiten Marokkokrise führte.
Was die deutsche Regierung mit der Reise Kaiser Wilhelms II. nach Tanger bezweckte äußerte Reichskanzler Bülow am 5. April 1906 „über die Ziele der deutschen Marokkopolitik“ vor dem Reichstag: „Wir wollten nicht in Marokko selbst festen Fuß fassen; denn darin hätte eher eine Schwächung als eine Stärkung unserer Stellung gelegen. Wir wollten auch älteren politischen und historisch begründeten Ansprüchen Spaniens oder Frankreichs keinen schikanösen oder überhaupt keinen Widerstand entgegensetzen, solange die deutsche Rechte und Interessen geschont und geachtet werden. Wir wollten uns auch nicht an England reiben, weil dieses in seinem Vertrag vom April 1904 eine Annäherung an Frankreich vollzogen hatte. […] Was wir wollen, war, zu bekunden, dass das Deutsche Reich sich nicht als quantité négligeable (unbedeutende Masse) behandeln lässt, dass die Basis eines internationalen Vertrages nicht ohne Zustimmung der Signaturmächte verrückt werden darf, dass in einem so mächtigen, selbstständigen, an zwei Welthandelsstraßen gelegenen Wirtschaftsgebiete die Tür für die Freiheit des fremden Wettbewerbs offen gehalten werden soll.„
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Quellenhinweise:
- „Meyers Konversations-Lexikon“ in 24 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien 1906
- „Meyers kleines Konversations-Lexikon“ in 6 Bänden 1908
- „Meyers Lexikon“ in 12 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig 1924
- Fotos aus „Woche“ Berliner August Scherl Verlag, Ausgaben 1900 – 1914
- „Geschichte des Deutschen Reiches 1871 – 1924“ von Johannes Hohlfeld, Verlag von G. Hirzel in Leipzig 1924
- „War alles falsch?“, Joachim von Kürenberg, Athenäum-Verlag – Bonn 1951
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