Darmstadt Haupt- und Residenzstadt des Großherzogtums Hessen, Stadtgeschichte in alten Ansichtskarten und zeitgenössischen Texten.
Darmstadt = 83 385 Einwohner (1905) = 49. Platz der größten Städte des Deutschen Reichs.
Darmstadt im Großherzogtum Hessen
Darmstadt ist die Haupt- und Residenzstadt des Großherzogtums Hessen. Sie liegt zwischen Rhein und Main, am Übergang des Odenwaldes und der Bergstraße in die Ebene und 146 Meter über dem Meer.
Die Stadt Darmstadt besteht aus der Altstadt, mit engen und winkeligen Straßen, und der Neustadt, die durch das großherzogliche Schloss und den Paradeplatz voneinander getrennt werden. Die Neustadt enthält breite, schöne Straßen, die zum Teil mit Alleen bepflanzt sind, sowie zahlreiche, mit hübschen Anlagen geschmückte Plätze und mehrere große, parkähnliche Gärten.
Hauptverkehrsader der Stadt ist die Rheinstraße, die vom Bahnhof, dem gegenüber das Bankgebäude sich befindet und die Bronzebüste des Chemikers Justus v. Liebig steht, nach dem schönsten Platze der Stadt, dem Luisenplatz, und zum großherzoglichen Schloss führt.
Darmstadt ist Sitz der obersten Staatsbehörden, der Ministerien, des Oberkonsistoriums, der Oberrechnungskammer, der Regierung für die Provinz Starkenburg, eines Kreisamts, Oberpostamts, Hauptsteueramts, der hessisch-thüringischen Staatslotterie, einer Zentralstelle für Landesstatistik und Gewerbe, eines Oberlandes- und Landgerichts sowie des Stabes der 25. Division, der 49. Infanterie-, 25. Kavallerie- und 25. Feldartilleriebrigade. Die städtischen Behörden zählen 4 Magistratsmitglieder und 42 Stadtverordnete.
An dem Luisenplatz liegen das Postgebäude, das Kollegiengebäude (1780), das Ständehaus und das Alte Palais. Auf dem Platz erhebt sich das Ludwigsdenkmal, eine 43 m hohe Sandsteinsäule mit dem 7 m hohen, nach Schwanthalers Entwurf von Stiglmayr aus Erz gegossenen Standbild Ludwigs I., des ersten Großherzogs von Hessen. Vom Luisenplatz nach Süden führt die breite Wilhelminenstraße zur Rotunde der katholischen Kirche; in der Nähe liegt das Palais des Prinzen Karl, in dem sich das Original der von Holbein des Jüngern gemalten Madonna des Bürgermeisters Meyer befindet.
Nach Norden zu gelangt man auf den Mathildenplatz mit dem Denkmal des Tonkünstlers Abt Vogler, dem Neuen Kollegiengebäude, dem Justizgebäude und dem Marstall. Von hier nach Nordwesten liegt einer der neuesten Stadtteile, das sogen Blumenthalviertel, in dem die evangelische Johanniskirche steht. Vom Luisenplatz nach Osten schreitend gelangt man zum großherzoglichen Schloss, einem aus verschiedenen Jahrhunderten stammenden Komplex von Bauten, der von einem tiefen, jetzt in Gartenanlagen verwandelten Graben umgeben ist.
Die ältesten Teile stammen noch aus dem Mittelalter. Die andern Gebäudeteile entstammen der Regierung Georgs I. (1567–1596). Der Glockenspielbau wurde von Ludwig VI. (gest. 1678) errichtet, die neuern Schlossteile von 1717 an durch Landgraf Ernst Ludwig. Das Schloss enthält die dem Land gehörigen wissenschaftlichen und Kunstsammlungen. Solche sind: 1) die Hofbibliothek mit über 600.000 Bänden, darunter 1700 Inkunabeln, und vielen Holzschnittwerken; 2) das Alte Museum, ägyptische, römische und germanische Altertümer,
eine Münzsammlung sowie kunstgewerbliche und ethnographische Gegenstände enthaltend; 3) das Kupferstichkabinett; 4) die Gemäldegalerie, besonders ausgezeichnet durch Werke der altdeutschen und niederländischen Schulen; 5) die naturwissenschaftlichen Sammlungen, darunter die paläontologische von besonderer Bedeutung; 6) der Antikensaal. Auch das Staatsarchiv befindet sich im Schloss.
Nördlich vom Schloss steht das nach dem Brand von 1871 neuerbaute Hoftheater, westlich von demselben erheben sich die Standbilder Philipps des Großmütigen und Georgs I., während weiter westlich das Monumentalgebäude des Neuen Museums entsteht, das nach seiner Fertigstellung (1905) die im Schloss befindlichen Sammlungen aufnehmen soll. Südlich davon zieht sich an der Westseite des Schlosses entlang der Paradeplatz, auf der einen Seite mit dem 1879 enthüllten Kriegerdenkmal, auf der anderen mit dem 1898 enthüllten, von F. Schaper modellierten Reiterstandbilde des Großherzogs Ludwig IV.
Nördlich vom Hoftheater und Neuen Museum dehnt sich der Schlossgarten oder Herrengarten aus, ein Park in englischem Geschmack. Rechts vom Eingang am Hoftheaterplatz befindet sich das Grab der „großen Landgräfin“ Karoline Henriette, Gemahlin des Landgrafen Ludwig IX. († 1774), das die von Friedrich der Große gestiftete Marmorurne mit der Inschrift: „Femina sexu, ingenio vir“ (Von Geschlecht eine Frau, von Geist ein Mann) trägt.
Hier hat auch seit 1903 das Denkmal des jungen Goethe (nach dem Entwurf von Habich und Zeller) seinen Platz. Östlich am Herrengarten steht der Monumentalbau der Technischen Hochschule. In den Süden des Parks wurde das früher auf dem Marienplatz befindliche Denkmal der in den Napoleonischen und Befreiungskriegen gefallenen hessischen Krieger versetzt.
Östlich an die Stadt grenzt die Mathildenhöhe, früher eine große Gartenanlage, jetzt zu einer Villenkolonie in Umwandlung begriffen. Hier befinden sich das Diakonissenmutterhaus Elisabethenstift mit schöner Kirche, das Alicehospital, die vom Zar Nikolaus II. von Russland 1898–99 erbaute russische Kapelle, zum Gedächtnis der Zarin Maria von Russland (Gemahlin Alexanders II.) errichtet, und die vom Großherzog Ludwig ins Leben gerufene Künstlerkolonie.
Auf der Südseite des Schlosses liegt der Marktplatz mit dem Rathaus, der neuerdings erweitert wird und den Namen Schillerplatz erhalten soll. Unweit davon erhebt sich die evangelische Stadtkirche aus dem 15. Jahrhundert, im 17. Jahrhundert umgebaut, mit dem Renaissancegrabmal von Georg I. († 1596). Von den sieben evangelischen Kirchen sind ebenfalls erwähnenswert die Bessunger- und Martinskirche. Die katholische Kirche enthält die Grabmäler der Großherzogin Mathilde und des Prinzen Friedrich. An gottesdienstlichen Gebäuden hat die Stadt noch zwei Synagogen.
Auf dem mit Anlagen gezierten Platze bei der katholischen Kirche, dem Wilhelminenplatz, wurde 1902 der verstorbenen Großherzogin Alice, Gemahlin Ludwigs IV., ein Denkmal errichtet. In der Nähe befindet sich das Neue Palais, die Wohnung des Großherzogs. Eine Zierde der Stadt sind auch die schönen und wohleingerichteten Schulbauten. Als Vergnügungslokale sind der Saalbau, der Saal der Turngemeinde und der Kaisersaal zu erwähnen.
Die Zahl der Einwohner betrug Ende des 18. Jahrhunderts erst 6700. 1816 zählte Darmstadt bereits 15.391 und 1900 mit den Garnisonen 72.381 Einwohner. Der Großteil sind Evangelische, 12.320 sind Katholiken und 1689 sind Juden. Die Industrie ist nicht unbedeutend. Darmstadt hat Fabriken für Chemikalien, Schokolade, Fayenceöfen, eiserne Herde, Kassenschränke, Kessel, Knöpfe, Lederwaren, Maschinen, Möbel, musikalische Instrumente, Seife, Spielkarten, Strohhüte, Tabak, Tapeten, Wagen etc.,
große Kunstgärtnereien, Klenganstalten für land- und forstwirtschaftliche Sämereien, geographisch-lithographische Anstalten und Buchdruckereien. Der Handel ist besonders lebhaft in landestypischen Produkten und wird unterstützt durch eine Reichsbankstelle (Umsatz 1902: 574,1 Millionen Mark.), die Bank für Handel und Industrie, die Bank für Süddeutschland, die Darmstädter Volksbank, die landwirtschaftliche Genossenschaftsbank, die hessische Hypothekenbank etc.
Die Stadt ist Knotenpunkt der preußisch-hessischen Staatsbahnlinien Frankfurt a. M. – Heidelberg, Mainz–Aschaffenburg, Darmstadt-Worms und anderer Linien. Zahlreiche elektrische Bahnlinien vermitteln den Verkehr in der Stadt und mit der Umgebung. An Bildungsanstalten besitzt Darmstadt außer der Bibliothek und den Sammlungen eine technische Hochschule (Sommersemester 1902: 1740 Studierende), zwei Gymnasien, ein Realgymnasium mit Realschule, eine Oberrealschule, Baugewerkschule,
Gewerbeschule, kaufmännische Schule, landwirtschaftliche Winterschule etc.,einen botanischen Garten, eine Zentralstelle für Gewerbe und den Gewerbeverein mit technischer Mustersammlung. Von Wohltätigkeitsanstalten sind besonders das städtische und das Landkrankenhaus, das Elisabethenstift, das Haus der Barmherzigen Schwestern, die Idiotenanstalt Alicestift und das Alicehospital zu nennen.
In Darmstadt stationiert sind ein Infanterieregiment Nr. 115, zwei Dragonerregimenter Nr. 23 und 24, ein Feldartillerieregiment Nr. 25, eine Abteilung Feldartillerie Nr. 61 und ein Trainbataillon Nr. 18. In der waldreichen Umgebung sind besonders bemerkenswert die Ludwigshöhe (242 m) mit großem Gast- und Pensionshaus und Aussichtsturm, ferner die Ausflugsorte Traisa, Ober- und Niederramstadt (Stationen der Odenwaldbahn), in größerer Nähe der Stadt der Karlshof, das Heilige Kreuz und die Rosenhöhe, letztere mit dem Mausoleum des großherzoglichen Hauses (Grabmal einer jung verstorbenen Prinzessin, von Rauch; Grabmal der Großherzogin Alice, von der Königin Viktoria von England gestiftet, ausgeführt von Böhm) und einem Schlösschen des Prinzen Wilhelm von Hessen. 6 km westlich von Darmstadt liegt der Truppenübungsplatz für das 18. Armeekorps.
Darmstadt Geschichte
In Urkunden des 8.–11. Jahrhunderts erscheint ein Dorf Darmundestat und war bis 1257 im Lehnsbesitz der Reichsministerialen von Dornberg. Dann vom Grafen Diether III. von Katzenelnbogen eingezogen, erhielt es 1330 Stadtrecht und bis 1375 war die alte Burg vollendet. Nach dem Erlöschen der männlichen Linie der Grafen von Katzenelnbogen 1479 kam Darmstadt durch Heirat an Hessen. 1518 hatte Darmstadt eine heftige Belagerung durch Franz von Sickingen zu bestehen, die durch einen Vergleich endete. Im Schmalkaldischen Kriege (1546) wurde die Stadt von einem niederländisch-spanischen Korps unter dem Grafen von Büren mit List eingenommen, geplündert und das Schloss in die Luft gesprengt. Die Stadt erholte sich erst unter dem Landgrafen Georg I. von Hessen, der Darmstadt zu seiner Residenz wählte (1567) und Stifter der hessen-darmstädtischen Linie wurde. Ihre glänzendste Zeit begann mit der Regierung Ludwigs X. (als Großherzog Ludwig I., 1790–1830). Die alten Mauern wurden größtenteils abgetragen, die Stadt nach allen Richtungen erweitert, ganze Straßen mit schönen Gebäuden und eine Menge vortrefflicher Bildungsanstalten gegründet. In Darmstadt wurde 1820–22 der sogenannte Darmstädter Handelskongreß (zur Beratung über gemeinschaftliche Zölle) von den Bevollmächtigten mehrerer süddeutscher Staaten gehalten und am 6. April 1852 die sogenannte Darmstädter Koalition gegen den preußischen Zollverein geschlossen. Bis zur Revolution 1918 war Darmstadt die Residenz der hessischen Großherzöge und danach Hauptstadt des „Volksstaates Hessen“. Nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) wurde das Hessen zwischen den Besatzungsmächten Frankreich und USA aufgeteilt. Der linksrheinische Teil (etwa deckungsgleich mit Rheinhessen) kam zur französischen Zone, während die übrigen Gebiete Teil der US-amerikanischen Zone wurden. Am 19. September 1945 gründete die amerikanische Besatzungsmacht den neuen Staat „Groß-Hessen“, der den rechtsrheinischen Teil des Volksstaates Hessen sowie den größeren Teil der Provinz Hessen-Nassau umfasste, die Hauptstadt wurde Wiesbaden.
Darmstadt ist heute eine kreisfreie Großstadt im Süden Hessens mit rund 160.000 Einwohnern (2020).
Bildergalerie
Quellenhinweise:
- Prof. A. L. Hickmann’s Geographisch-statistischer Taschen-Atlas des Deutsches Reichs, Leipzig und Wien 1897
- „F. W. Putzgers Historischer Schul-Atlas“, Verlag von Velhagen & Klasing, 1902
- „Harms Vaterländische Erdkunde“, 1906
- „Post-Taschen-Atlas von Deutschland nebst Ortsverzeichnis“, Th. Pfuhl, Berlin, 1906
- „Meyers Großes Konversations-Lexikon“ 6. Auflage in 20 Bänden, Bibliographisches Institut Leipzig und Wien, 1905-1911
- „Petzolds Gemeinde- und Ortslexikon des Deutschen Reiches“, Band 1 und 2, Bischofswerda (Sachsen), 1911
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