Der Italienisch-Türkische Krieg 1911/12 um die Provinzen Tripolis und Cyrenaica im heutigen Libyen.
Der Italienisch-Türkische Krieg 1911/12, auch Tripolis-Feldzug, gilt als wesentliche Etappe zum Ersten Weltkrieg (1914-18). Er war ein äußerst brutaler Krieg gegen die Zivilbevölkerung und ist heute weitgehendst aus dem kollektiven Gedächtnis der Europäer verschwunden.
Mitte des 19. Jahrhunderts galt Afrika dem Rest der Welt noch als der „dunkle Erdteil“. An Fläche dreimal so groß wie Europa, ist Afrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts im wesentlichen entdeckt und aufgeteilt worden. Annähernd je ein Drittel haben die Briten und Franzosen besetzt, den Rest das Deutsche Reich, Portugal, Belgien, Spanien und Italien sich einverleibt.
Abgesehen von Abessinien (Äthiopien) und Liberia bewahrten sich nur zwei Länder eine gewisse Selbstständigkeit: Marokko, das Ziel französischer Begehrlichkeiten und Tripolitanien (der Norden des heutigen Libyens), das Neuland italienischer Kolonialpolitik.
Frankreich, als stärkste Regionalmacht, drang zuerst in Algerien vor und strebte mit seinen steigenden Erfolgen nach der Schaffung eines großen nordwestafrikanischen Kolonialreiches. Italien sah missmutig zu, wie Frankreich Tunis einverleibte, protestierte aber nicht.
Tripolitanien wurde 1714 ein türkischer Tributstaat unter einer einheimischen Dynastie, aber nach der Eroberung Algeriens durch Frankreich im Jahre 1830 ein türkisches Wilajet (Verwaltungsbezirk) mit der Hauptstadt Bengasi.
Im Jahre 1892 brachten die Italiener im Osten Afrikas Eritrea und Teile von Somalia unter ihre Kontrolle. Der Versuch Abessinien (Äthiopien) wurde aber von den Truppen des Kaisers Menelik abgewehrt. Sie fügten den Italienern am 1. März 1896 eine bittere Niederlage zu. Die Schlacht von Adua, einer Stadt an der eritreisch-äthiopischen Grenze, brannte sich in das kollektive Gedächtnis als nationale Schmach ein.
Durch Verträge mit Frankreich (1900) und Russland (1909) sicherte sich Italien Tripolitanien als Interessensphäre und brach nach dem Einverständnis mit Großbritannien, das dafür Sollum (Sallum, heute eine ägyptische Grenzstadt zu Libyen) erhielt, am 28. September 1911 den Krieg mit der Türkei (Osmanisches Reich) vom Zaun.
Italien, das mit starken wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte und zudem eine sehr starke Auswanderung verzeichnete (allein zwischen 1900 und 1911 wanderten über 1,5 Millionen Italiener nach Nord- und Südamerika aus), versuchte sich mit afrikanischen Kolonien neue Absatzmärkte und Siedlungsgebiete für seine stark anwachsende Bevölkerung zu verschaffen. Die Banca di Roma, ein Finanzinstitut, bei dem die Mönchsorden und vor allem der Pabst ihre Gelder untergebracht haben, unternahmen zeitgleich einen wirtschaftlichen Einfall in Tripolis.
Giovanni Giolitti
* 27.10.1842 in Mondovi
† 17.07.1928 in Cavour;
mehrfacher Ministerpräsident Italiens
Am 26. September 1911 stellte der italienische Premierminister Giovanni Giolitti der Hohen Pforte, der osmanischen Regierung in Konstantinopel (Istanbul), ein 24stündiges Ultimatum, welches die sofortige Abtretung Tripolitaniens und der Cyrenaika verlangte.
Um die osmanische Regierung daran zu hindern, Verstärkungen über das Mittelmeer nach Nordafrika zu bringen, versenkte die italienische Marine als erste Kriegshandlung am 29. und 30. September vor der albanischen Küste drei osmanische Torpedoboote, womit die italienischen Schiffe fast ungehinderten Zugang zum östlichen Mittelmeer erlangten.
Während so die türkischen Operationen behindert waren, wurden in Italien mehrere Armeekorps organisiert und die Reservisten strömten in die Kasernen der verschiedenen Truppenteile, die unter dem Kommando des Generals Carlo Caneva den Weg über das Meer antreten sollten.
Augusto Aubry
* 28.04.1849 in Neapel
† 04.03.1912 in Taranto an Bord des Schlachtschiffes „Vittorio Emanuele“. Italienischer Marineoffizier. Vizeadmiral des italienischen Panzergeschwaders.
Das italienische Panzergeschwader unter Admiral Aubry hatte sofort nach der Kriegserklärung die tripolitanische Küste zu blockieren begonnen und so gelang es, jede Schiffsverbindung zwischen Tripolis und der Türkei zu unterbinden.
Da den Türken der Landweg durch das zwar nominell unter osmanischer Oberherrschaft stehende, tatsächlich aber von den Briten besetzte Ägypten abgeschnitten war, gab es für sie keine Möglichkeit, neue Truppen in die bedrohte Provinz zu entsenden.
Am 2. Oktober versenkten die Italiener vor Tripolis den osmanischen Dampfer „Derna“ und zerstörten die türkische Funkstation von Derna (Darna) an der ostlibyschen Küste, um so die Kommunikation zwischen der Türkei und seiner nordafrikanischen Provinz zu unterbinden.
Der Krieg begann mit dem Beschuss von Tripolis am 3. Oktober 1911. Am 4. Oktober landeten die Italiener mit einem Expeditionsheer von 20.000 Mann unter General Carlo Caneva und nahmen Tripolis und Tobruk ein. Bis zum 14. Oktober wurden dann alle anderen wichtigen Küstenorte Tripolitaniens und der Cyrenaika eingenommen.
Die türkischen Offiziere mussten ihren Grundbesitz für einen Bruchteil des Wertes verkaufen und das Land verlassen; die Banco di Roma machte dabei gute Geschäfte. Die deutschen Diplomaten in der Türkei sahen es als ihre Pflicht an, Leben und Eigentum der Italiener zu schützen, die während des Krieges in der Türkei blieben.
In Tripolis nahm der deutsche Konsul Dr. Tilger die Italiener unter seinen Schutz.
Alfred Tilger
1865 – ?
deutscher Diplomat und Konsul in Tripolis
In Rom herrschte in den ersten Kriegstagen großer Jubel und der Herzog der Abruzzen, der als Admiral des in der Adria operierenden Geschwaders bei Preveza den ersten Seesieg über einige türkische Torpedoboote davontrug, wurde selbst von den Republikanern gefeiert.
Carlo Caneva
* 22.04.1845, Udine
† 25.09.1922, Rom
italienischer General, Höchstkommandierender des italienischen Tripolis-Expedition.
Auch der Kommandant der nach Tripolis entsandten italienischen Streitkräfte General Carlo Caneva war ein sehr populärere Heerführer, der schon während des abessinischen Krieges (Italienisch-Äthiopischer Krieg 1895/96) in Afrika gekämpft hat.
Mahmud Shevket Pascha
* 1856 in Bagdad
† 11.06.1913 in Konstantinopel ermordet,
türkischen Kriegsminister.
Sein Gegenspieler im Inneren von Tripolitanien wurde der bisherige osmanische Militärattaché in Berlin Enver Pascha. Der oberste Leiter aller türkischen Streitkräfte blieb auch nach dem Kabinettswechsel der Kriegsminister Mahmud Schwechat-Pascha.
Enver Pascha
* 22.11.1881 in Istanbul
† 04.08.1922 bei Baldschuan (im heutigen Tadschikistan),
1909 bis 1911 Militärattaché in Berlin, türkischer Oberbefehlshaber in Tripolitanien
Im Osmanischen Reich herrschte zunächst tiefe Bestürzung, die in Wut und Hass gegen Italien und weiterhin gegen ganz Europa entflammte. In der ganzen Provinz Tripolitanien und Cyrenaica standen nur 5000 Mann reguläre Truppen. Die hatten sich bei der Landung der Italiener in den einzelnen Küstenorten, besonders in Bengasi heftig widersetzt und mussten sich doch überall vor den überlegenen Streitkräften in die Wüstengebiete zurückziehen.
Die Italiener hatten sich die Eroberung von Tripolis als einen hübschen militärischen Spaziergang bei trockenem Wetter vorgestellt und zunächst verlief auch alles nach Plan. Aber dann brachen aus dem Inneren von Tripolitanien die Reiterscharen der Araber hervor und unterstützen ihre türkischen Glaubensbrüder gegen die christlichen Eroberer aus dem Norden. Die grüne Fahne des Propheten wurde entfaltet und zum heiligen Krieg aufgerufen.
Am 23. Oktober 1911 kam es im Dorf Shar al-Shatt am Stadtrand von Tripolis zum „Massaker von Sciara Sciat“. Das IV. Bataillon des 11. Bersaglieri-Regiments von Oberst Gustavo Fara war hier stationiert worden, als sie von einem türkisch-arabischen Überraschungsangriff völlig überrumpelt worden. Alle gefangengenommenen Italiener folterten die Araber bestialisch zu Tode.
Gaston Leroux, Korrespondent des „Matin-Journal“, berichtete als Augenzeuge, wie er in einer Moschee „siebzehn gekreuzigte Italiener“ vorfand. Auch alle anderen „Leichen waren verstümmelt und kastriert“. Insgesamt 503 italienische Offiziere und Soldaten kamen ums Leben, wobei 290 davon durch Folter ermordet wurden. Im ganzen Land kam es nun zu Guerillaüberfälle bei denen italienische Soldaten umgebracht wurden.
Die Italiener beschuldigten die Araber nun des „tradimento“ (Landesverrates) und übten daraufhin grausame Rache. Die Soldaten durchkämmten die Stadt Tripolis und erschossen sofort jeden Verdächtigen. Überall gab es Standgerichte und Erschießungskommandos, wobei es tausende Opfer der einheimischen Bevölkerung gab.
Rund 5000 Araber wurden auf italienische Strafinseln deportiert und Italien begann eiligst weitere Reservisten einzuziehen. Zusätzlich begann die Cholera zu wüten und machte den italienischen Expeditionstruppen, wie auch den Einheimischen in Tripolis schwer zu schaffen.
Erst der Angriff der italienischen Marine auf die Dodekanes Inseln in der Ägäis zwang das Osmanische Reich zu Friedensverhandlungen. Der im Oktober 1912 unterzeichnete Friedensvertrag von Lausanne sah vor, dass die Osmanen ihre Truppen aus Libyen zurückzogen, aber die religiöse Oberhoheit im Land behielten. Im Sommer 1913, als die osmanischen Soldaten Libyen tatsächlich verließen, ging der türkisch-italienische Krieg zu Ende, aber der Konflikt blieb und wurde als libysch-italienischer Krieg fortgeführt.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Kriegserklärung Italiens 1915 an Österreich-Ungarn mussten sich die Italienern wieder an die Küste zurückziehen. Nach dem Ersten Weltkrieg eroberten die Italiener Tripolitanien und die Cyrenaica, bis 1925 auch den südlichen Fessan und 1926 die Oase Djaghabub. Im Jahr 1934 wurden die italienischen Eroberungen in Nordafrika unter dem alten römischen Namen des Landes „Libyen“ zusammengefasst.
Während des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945) besetzten britischen Truppen das Land. 1947 verzichtete Italien offiziell auf seine Kolonie und Libyen wird auf Beschluss der UN am 24 Dezember 1951 ein selbstständiges Königreich. König Idris I. überließ Großbritannien und den USA Militärstützpunkte und zentralisierte die Verwaltung des Landes. Nach 1961 brachte die wachsende Erdölförderung der Oberschicht des Landes großen Reichtum.
Im Jahr 1969 stürzten unzufriedene Offiziere unter der Führung von Oberst Muammer Al Ghadafi die Monarchie und errichteten ab 1977 eine auf den Koran gestützte „Volks-Dschamahirija“. Ghadafi geriet durch seine antiwestliche Politik und die Unterstützung von paramilitärischen Milizen und Terrororganisationen immer mehr in Konflikt mit dem Westen. Anfang 2011 kam es in Libyen zu landesweiten Aufständen und die Vereinigten Staaten, Kanada und mehrere westeuropäische Staaten begannen mit Luftangriffen auf Libyen. Muammer Al Ghadafi wurde am 20. Oktober 2011 nach einem Luftangriff auf seinem Konvoi getötet, seitdem wird Libyen von einem Bürgerkrieg erschüttert.
Zusammenfassung und Fazit:
Der Italienisch-Türkische Krieg 1911/12, auch Tripolis-Feldzug, gilt als wesentliche Etappe zum Ersten Weltkrieg (1914-18). Der Krieg kannte am Ende viele Verlierer aber auch viele Gewinner.
Um seine starken wirtschaftlichen Problemen zu bekämpfen und in der Hoffnung die Auswanderung zu steuern, setzte Italien auf eine schnelle Eroberung des Landes im Norden Afrikas. Der erhoffte Spaziergang wurde schnell zu einem mörderischen Gemetzel, dem auch Tausende Italiener durch Kämpfe und Krankheiten zum Opfer fielen. Da Italien sich wegen dieser Eroberungen mit Großbritannien und Frankreich arrangieren musste, entfernte es sich als Dreibundmitglied weiter von seinen Bündnispartnern Deutschland und Österreich-Ungarn und gipfelte schließlich in der Kriegserklärung von 1915 an seine ehemaligen Verbündeten.
Das Osmanische Reich war bereits viel zu schwach um seine entfernten afrikanischen Gebiete zu beschützen. Nach Algier, Tunis und Kairo verlor es mit Tripolis seine letzte afrikanische Basis. Der Gegner Russland formte mit dem Balkanbund, Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro eine militärische Macht, die sich nun anschickte die Türken auch aus ganz Europa zu vertreiben. Nach den Balkankriegen von 1912 und 1913 wurde die heutigen türkische Grenze auf dem europäischen Kontinent festgelegt.
Die einheimischen Araber wurden durch den 35jährigen gemeinsamen Kampf gegen die Italiener zu Libyern. Dieser Kampf hat sich tief in das libysche Nationalbewusstsein eingebrannt und wurde auch von Muammer Al Ghadafi immer wieder benutzt, ohne das die westliche Welt davon Kenntnis nahm. Nach Ghadafi Sturz im Jahr 2011 verfiel das Land wieder in einen Krieg.
Für das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn war der Türkisch-Italienische Krieg ein Desaster. Mit dem unsicheren Partner Italien war man offiziell im Dreibund verbündet, während insbesondere Deutschland mit dem Osmanischen Reich eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit pflegte. Italien näherte sich fortan Frankreich und Großbritannien immer weiter an, drückte sich 1914 um seine Bündnispflicht und erklärte 1915 den Mittelmächten sogar den Krieg.
Die Nutznießer des Krieges waren die Balkanstaaten, Frankreich und Großbritannien, deren mittelfristiges Ziel die Zerschlagung des Osmanischen Reiches war. In den Balkankriegen von 1912 und 1913 nutzten Serbien, Bulgarien, Griechenland und Montenegro, mit Rückendeckung Russlands, die Gelegenheit die ihnen der Italienisch-Türkische Krieg bot um die Türken fast vollständig aus Europa zu vertreiben.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 stellte sich das Osmanische Reich an die Seite der Mittelmächte und verlor mit ihnen zusammen 1918. Der 1920 geschlossene Friedensvertrag von Sèvres bedeutete dann für das Osmanische Reich auch das wirkliche Ende und nur durch einen vierjährigen Befreiungskrieg konnte das Land, auf sein Gebiet in Kleinasien beschränkt, als Türkei weiterexistieren. Frankreich und Großbritannien teilen sich nun die erdölreichen, ehemaligen osmanischen Territorien untereinander auf.
Libyen ist heute ein nordafrikanisches Land mit rund 7 Millionen Einwohnern. In der Hauptstadt Tripolis leben rund 3 Millionen Einwohner.
Sammelbilder Italienisch-Türkischer Krieg 1911/12
Bildergalerie
Quellenhinweise:
- „Tripolis-Raub und Weltkrieg“ von Hermann Wendel, Rede, gehalten am 5. November 1911 im Kaufmännischen Vereinshaus zu Frankfurt am Main.
- „Meyers Großes Konversations-Lexikon“ 6. Auflage in 24 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien, 1906 – 1908
- „Meyers Kleines Konversations-Lexikon“, 7. Auflage in 6 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien 1908
- Die Woche, Zeitschrift 1911/12
- Bertelsmann Universallexikon 1994
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