Chur, Ausblick von der Malixerstraße

Graubünden

Der Kanton Graubünden in einer Darstellung um 1900, Geschichte in alten Ansichtskarten und zeitgenössischen Texten.

Hauptort Chur

Chur gegen Oberland
Chur gegen Oberland

Kanton Graubünden

Kanton Graubünden, Karte 1914
Kanton Graubünden, Karte 1914

Graubünden (Bünden, franz. les Grisons, rätoroman. ils Grischuns, ital. i Grigioni) ist ein Kanton der Schweiz, ihren Südosten umfassend, grenzt östlich an Tirol, südlich an die Lombardei, westlich an Tessin und Uri, nördlich an Glarus, St. Gallen, Liechtenstein und Vorarlberg, hat ein Areal von 7132,8 km² (129,5 Quadratmeilen), wovon 9 km² auf Seen entfallen und ist somit der größte Kanton. Graubünden ist ein Gebirgsland im strengsten Sinne des Wortes, ohne Ebenen, mit schmalen Talflächen und dem ausgeprägten Charakter der Massenerhebung (Adula-Alpen, Rätische Alpen mit ihren einzelnen Gruppen, wie Albula-, Silvretta-, Bernina-, Spöl-, Münstertaler- und Plessur-Alpen.

Inner-Arosa
Inner-Arosa

Die Massenerhebung kommt abwechslungsreich zum Ausdruck, einmal durch die Hochtäler (Davos 1560 m, Rheinwaldtal 1400–1600 m, Engadin 1000 bis 1800 m), die relativ kleine Gipfelhöhe, die im allgemeinen sanften Böschungen und ihre vorherrschende Bekleidung mit Wald und Weiden, die hohe obere Waldgrenze für Nadelholz (im Prätigau 1900 m, Engadin 2200 m), das Hinaufrücken der Schneelinie (in der Silvretta 2750 m, im Bernina 2950 m), die relativ kleine Gletscherfläche von nur 395 km² (5 %) und die hohe Lage der Siedelungen. 1900 lebten 53,3 % der Bewohner dauernd in einer Hohe von mehr als 1000 m, darunter 17,9 % in mehr als 1500 m Höhe. Das Dörfchen Cresta im Avers liegt um 1950 Meter; die höchste ständige Wohnung ist das Hospiz auf dem Flüelapaß (2388 m). Die Täler, soweit sie zum Rheingebiet gehören, bilden hauptsächlich das Gebiet des Vorderrheins (Bündner Oberland) und des Hinterrheins; unterhalb des Zusammenflusses beider Rheine öffnen sich gegen das Rheintal nur noch das Schanfigg und Prätigau, die von der Plessur, bez. der Lanquart durchflossen werden. Das Pogebiet ist durch vier Täler vertreten: Misox und Calanca, Bergell und Puschlav; die entsprechenden Zuflüsse des Po heißen Moësa, Calancasca, Maira und Poschiavino. Der Ram, der Bach des Münstertals, fließt zur Etsch; zum Donaugebiet gehören das vom Inn durchströmte Engadin und dessen Nebentäler.

Davos-Platz (1559 m) geg. d. Tinzenhorn
Davos-Platz (1559 m) geg. d. Tinzenhorn

Der Kanton Graubünden ist reich an Seen, doch sind nur wenige von größerem Umfang, wie die Seen von Sils und Silvaplana im Oberengadin, der See von Poschiavo und der Lago bianco am Berninapaß. Zugänge, Straßen, Pässe. Die Hauptpforte der Nordseite bildet das Rheintal, durch das die Eisenbahn über Chur nach dem Bündner Oberland bis Ilanz und anderseits nach Thusis vordringt; an die letztere schließt sich die nach Samaden und St. Moriz im Engadin führende Albulabahn an. Die übrigen Zugänge sind, abgesehen von dem durch Befestigungen geschützten Luciensteig (727 m), bloße Gebirgspfade, wie das Schweizertor (2170 m) und andere den Rätikon von Montafon her überschreitende Passe, der Segnes- (2625 m) und der Panixer Paß (2407 m) nach dem Sernftal, der Kreuzlipaß (2350 m) nach Uri. Die Hauptverbindung mit Uri, auf der Westseite, bildet die Oberalpstraße (2052 m), während südwärts nach Tessin und Italien mehrere fahrbare Übergänge führen. Lukmanier (1917 m), Bernardino (2063 m), Splügen (2117 m) und Bernina (2330 m); von Bergpfaden der Greinapaß (2360 m) und der wilde Murettopaß (2557 m).

Unter-Engadin, Schloss Tarasp (1505 m)
Unter-Engadin, Schloss Tarasp (1505 m)

Die natürliche Pforte nach Osten bildet der Inn, dessen finstere Ausgangsschlucht bei Finstermünz die Straße aus dem Unterengadin über Nauders umgeht; eine kleine Straße führt über den Ofenpaß (2155 m) ins Münstertal und von hier die 1900 eröffnete Umbrailstraße über das Wormser Joch (2512 m) nach der Stilfser Jochstraße. Der Verkehr zwischen den einzelnen Talern des Landes selbst benutzt eine Menge einsamer Bergpfade; die Strela (2377 m), die Scaletta (2619 m), der Septimer (2311 m) u. a. dienen auch der Touristenwelt, während Lenzerheide (1551 m), Julier (2287 m) und Albula (2315 m) die fahrbare Verbindung mit dem Oberengadin, die Straße über den Flüelapaß (2388 m) diejenige mit Davos und dem Unterengadin vermitteln.

Davos-Platz (1559 m) - Promenade
Davos-Platz (1559 m) – Promenade

Von Landquart, einer Station an der Eisenbahn Chur-Sargans, zweigt eine schmalspurige Adhäsionsbahn durch das Prätigau über Klosters nach Davos ab. Das Klima Graubündens ist dasjenige eines Hoch- und Gebirgslandes, weist aber große Verschiedenheiten auf. Das untere Rheingebiet und die Täler auf der Südseite der Alpen haben ein mildes Klima (Jahresmittel für Chur in 610 m Höhe 8,4°C, für Castasegna, 700 m, 9,4°C); je höher man in den Tälern steigt, um so mehr sinkt die mittlere Jahrestemperatur: Schuls (1200 m) 5,2°C, Splügen (1430 m) 3,1°C, Davos (1560 m) 2,8°C, Sils-Maria (1810 m) 1,5°C. Aber die leichte und trockene Luft, der heitere Himmel und die starke Sonnenstrahlung machen auch im Winter höhere Kältegrade erträglich. Die Niederschläge sind gering, im Rheintal unterhalb Chur 83 cm, in Davos und im Oberengadin je 100 cm.

Stadt Chur

Chur (rätoroman. Cuera, ital. Coira, franz. Coire) ist die Hauptstadt des Kantons Graubünden, liegt 594 Meter über dem Meer, auf dem Schuttkegel der Plessur, eines rechtsseitigen Zuflusses des Rheins, ist Knotenpunkt der Bahnlinien Chur-Sargans-Rorschach und Thusis-Landquart, Ausgangspunkt der Splügen- und Julierstraße.In dem höheren Stadtteil liegt der „Hof“, die bischöfliche Residenz, mit altem, romanischem Dom (teilweise aus dem 8. Jahrhundert, mit Wandgemälden nach Holbeins Totentanz). Vor dem Dom steht das Denkmal des Kapuzinerpaters Theodosius. Mit dem Bischofspalast in Verbindung steht der hohe Römerturm Marsöl (mit Archiv und Bibliothek); ein zweiter (Spinöl) ist fast ganz abgetragen. Im Jahr 1900 leben hier 11.706 Einwohner. Seit der Eröffnung der Alpenbahnen hat die Durchfuhr von Waren abgenommen; nur der Besuch von Touristen und Kurgästen ist größer geworden.

Chur, Ausblick von der Malixerstraße
Chur, Ausblick von der Malixerstraße

Chur hat 2 Banken, unbedeutende Industrie (Stickereien, Gerbereien, mechanische Werkstätten, Möbelfabriken, mehrere Bierbrauereien), eine paritätische Kantonsschule (Gymnasium, Industrieschule und Lehrerseminar umfassend), ein Priesterseminar in dem ehemaligen Prämonstratenserkloster St. Luci, ein rätisches Museum, eine Kantonsbibliothek von 50.000 Bänden. Die Stadt, eng und düster, ist römischen Ursprungs (Curia Raetorum) und wird schon 451 als Bischofsitz erwähnt. Durch Schenkung Kaiser Ottos I. Eigentum des Bischofs geworden, aber einem Reichsvogt unterstellt, erhielt sie 1489 durch Erwerbung der Vogtei die Rechte einer Reichsstadt. 1527 wurde hier die Reformation eingeführt. Anfang des 17. Jahrhunderts war Chur der Schauplatz wilder Parteikämpfe; 1799 wurde es durch die Kämpfe zwischen Franzosen und Österreichern mitgenommen. In der Umgebung sind die Sauer- und Salzquelle von Pasugg und der höher gelegene Luftkurort Churwalden zu erwähnen.

Aufnahme in die Schweizer Eidgenossenschaft:

Im Jahr 1803 trat Graubünden als 15. Kanton der Eidgenossenschaft bei.

Schweizer Kantone, Karte 1914
Schweizer Kantone, Karte 1914

Größe:

Angaben 1880: 7184,8 km²

Bevölkerungsdichte:

  • 1879: 13,01/Einwohner/km²
  • 1900: 14/Einwohner/km²

Einwohner:

Die Bündner sind ein ausgesprochenes Bergvolk; sie sind im allgemeinen hochgewachsen, dunkelhaarig, intelligent, energisch, genügsam, etwas bequem, zäh am Alten hängend, aber von hohem Unabhängigkeitsdrang. Sie wandern vielfach (besonders die Engadiner) des Erwerbs halber nach fremden Städten. Für die Volksbildung sorgen Primar-, Real- und Fortbildungsschulen, die meist Winterschulen (mit 24–26 Schulwochen) sind. Von höheren Bildungsanstalten sind zu nennen: die vereinigte Kantonschule (mit Lehrerseminar) und ein katholisches Priesterseminar in Chur, daneben ein (privates) Lehrerseminar nebst Gymnasium und Realschule in Schiers, die Klosterschule in Disentis, das Gymnasium Fridericianum in Davos, das Kollegium in Roveredo (Misox), eine landwirtschaftliche Schule bei Landquart. Die Kantonsbibliothek zählt über 20.000 Bände.

  • 1879:  93.508
  • 1880:  95.040
  • 1900: 105.065
Graubünden, Tracht
Graubünden, Tracht

Gewässer:

Flüsse Vorderrhein, Hinterrhein, Rhein und Inn

Sprachen:

Die Bevölkerung beträgt (1900) 105.065 Einwohner; davon sprechen

  • 49 % deutsch
  • 36 % rätoromanisch (am Vorderrhein, in einigen Gegenden am Hinterrhein, im Engadin und Münstertal)
  • 14 % italienisch (in den vier Tälern des Pogebiets)

Religion:

Von der Einwohnern gehörten im Jahr 1900

  • 55.371 (53 %) dem reformierten,
  • 49.585 (47 %) dem katholischen Bekenntnis an.

Bei der deutschen Bevölkerung überwiegen die Reformierten, während unter den Rätoromanen und Italienern das katholische Bekenntnis vorherrscht. Die Katholiken stehen unter dem Bistum Chur.

Inner-Arosa
Inner-Arosa

Wirtschaft:

Von der Gesamtfläche sind nur 3851,6 km² (53,6 %) produktiv, davon 2625,6 km² Äcker, Gärten, Wiesen und Weiden, 2,9 km² Rebland und 1223,1 km² Wald. Nicht weniger als 60 % der Bevölkerung beschäftigen sich mit Urproduktion, vor allem mit Land- und Alpenwirtschaft. Der Ertrag des Ackerbaues reicht nicht für den Bedarf aus. Man baut besonders Roggen, daneben Weizen, Gerste, Hafer, Kartoffeln und Mais, im Puschlav Tabak. Der Weinbau ist auf das untere Misox und das untere Rheintal bis Reichenau beschränkt. In den Weinbergen von Malans, in der sogen. Herrschaft, wächst ein vortrefflicher Weißwein („Kompleter“ geheißen), sonst sind die Bündner Weine meist rot. Große Mannigfaltigkeit herrscht an Obst, von den Kastanien des Bergell und den Südfrüchten des Misox bis zu den nur im Oberengadin nicht mehr vorkommenden Kirschen. Nadelwald, darunter die Arve, herrscht vor; nur im Prätigau ist die Buche häufig. Holzausfuhr findet nach Glarus und Zürich statt. Wichtiger als der Ackerbau ist die Viehzucht. 1901 zählte man 4554 Pferde, 77.861 Rinder, mit 71.414 Stück die meisten Schafe in der Schweiz, 45.206 Ziegen und 22.004 Schweine; dazu kommen etwa 20.000 Bergamasker Schafe und 4–5000 Rinder aus dem benachbarten Italien zur „Sömmerung“ in die Engadiner Berge. Von Rindern unterscheidet man zwei Rassen, das Braunvieh und das Grauvieh; ersteres vorherrschend im Rheintal, letzteres im Oberland.

Chur (590 m)
Chur (590 m)

Die Kühe werden vielfach zur Aufzucht von Jungvieh behalten; daneben überwiegt die Produktion von Butter gegenüber der Käsefabrikation. 1890 zählte man 800 Alpen mit etwa 68.000 Stoßen (Weideland für je eine Kuh ausreichend). Die Bienenzucht ist weit verbreitet und liefert in einigen Tälern (Tavetsch, Bergell) vortrefflichen Honig; im Untermisox wird etwas Seidenzucht getrieben. An Hochwild findet man: Steinadler (der Lämmergeier ist seit kurzem verschwunden), Bär (seltener), Fuchs, Dachs, Gemse, Murmeltier, Hirsch und Reh (im Prätigau und Unterengadin), seltener Hafen. Die kristallhellen Seen und Bäche sind reich an Forellen. Für die Hebung der Fischzucht wird durch Aussetzung von Fischeiern viel getan; es bestehen vier Fischzuchtanstalten. – Der früher nicht unbedeutende Bergbau liegt danieder, doch fehlt es nicht an brauchbarem Gestein (Griffelschiefer, Lavezstein, Marmor etc.) und nutzbaren Erzen (Eisen, Mangan, Kupfer, Zink, Silber etc.). Sehr groß ist der Reichtum an Mineralquellen. Mehrere von ihnen haben europäischen Ruf, so die Sauerbrunnen von St. Moriz, Tarasp-Schuls, St. Bernhardin, Fideris, Andeer und Passugg, die schwefelhaltigen Gipswasser in Alvaneu, Serneus und Le Prese. Noch zahlreicher sind die Luftkurorte im Oberengadin, Prätigau, dem Oberlande, Bergell etc. Ein berühmter Standort für Touristen ist Pontresina; Davos und Arosa sind vielbesuchte Winterkurorte. Der Fremenindustrie dienten 1900 mehr als 280 größere Hotels mit ca. 6000 Betten. Die Industrie ist nicht bedeutend und Fabrikanlagen vereinzelt. Die Herstellung von grauem Tuch wird als Hausindustrie betrieben. Es bestehen mehrere Stickereien, eine Baumwollzwirnerei, ferner eine Pulver-, eine Maschinen-, eine Tuchfabrik in Chur, eine Papierfabrik bei Landquart etc. Der einheimische Handel ist Vieh- und Holzhandel. Das Speditionsgeschäft Churs hat seit Eröffnung der Brenner- und der Gotthardbahn sehr verloren.

Arosa
Arosa

Politische Verwaltung und Einteilung:

Der Kanton Graubünden gliedert sich in 14 Bezirke, 39 Kreise, 224 Gemeinden, bildet einen Nationalrats-Wahlkreis mit 5 Mandaten und gehört in militärischer Beziehung zum 8. Divisionskreis. Die Verfassung vom 2. Oktober 1892 vom Volk angenommen und am 1. Januar 1894 in Kraft getreten, ist demokratisch. Der Volksabstimmung unterliegen alle Verfassungsänderungen, die Staatsverträge, Konkordate, gewisse Kategorien von Gesetzen, neue Ausgaben von mindestens 100.000 Franken oder wiederkehrende Ausgaben von mindestens 20.000 Franken etc. Das Recht der Initiative ist einer Zahl von 3000 stimmberechtigten Einwohnern eingeräumt. Das Stimmrecht beginnt mit Vollendung des 20. Lebensjahres. Das gesetzgebende Organ des Volkes bildet der Große Rat, der auf zwei Jahre (je ein Mitglied auf 1300 Einwohner) gewählt wird. Ihm steht die Vorberatung der der Volksabstimmung unterliegenden Fragen, die Vollziehung der Bundes- und Kantonsgesetze, der Erlass von Verordnungen in Landesangelegenheiten, der Entwurf des Budgets, die Aussicht über die Landesverwaltung etc. zu. Die Exekutive übt der Kleine Rat aus, der aus 5 Mitgliedern besteht, die vom Volk auf 3 Jahre gewählt werden und zweimal wieder wählbar sind. Alle drei Sprachen, die deutsche, italienische und romanische, dürfen als Landessprachen in der Verwaltung und vor Gericht gebraucht werden. Als Organe der Rechtspflege dienen die Vermittlerämter (Friedensrichter), Kreisgerichte (7 Mitglieder), Bezirksgerichte (7 Mitglieder) und das Kantonsgericht (9 Mitglieder). Die Mitglieder der ersteren beiden werden auf 2 Jahre, die der beiden letzteren auf 3 Jahre gewählt, sind aber immer wieder wählbar. Die Staatseinnahmen betrugen 1902: 1.204.975 Franken, die Ausgaben 2.186.682 Franken, das Defizit wird durch eine direkte Landessteuer gedeckt.

Das Wappen von Graubünden zeigt drei Schilde:

  1. von Silber (auch Gold) und Schwarz gespalten (Oberer oder Grauer Bund);
  2. mittlerer Schild: in Silber ein schwarzer Steinbock (Gotteshausbund);
  3. von Blau und Gold geviertet, mit einem von Gold und Blau gevierteten Kreuz (Zehngerichtebund).

Die Landesfarben des Kantons sind Grau, Weiß und Blau. Hauptstadt ist Chur.

Graubünden, Wappen
Graubünden, Wappen

Städte und Gemeinden:

Der Kanton Graubünden besteht aus 14 Bezirke, 39 Kreise, 224 Gemeinden.

Chur, Davos, Igis, St. Moritz, Domat/Ems, Fläsch

Geschichte:

Zur Zeit der römischen Herrschaft bildete Graubünden einen wegen seiner Alpenstraßen über den Julier, Septimer und Splügen wichtigen Teil der Provinz Raetia prima. Von der Völkerwanderung wurde es nicht stark berührt, weshalb sich in seinen Tälern die rätoromanische Bevölkerung und Sprache erhalten haben. 536 wurde das durch die Bayern und Alemannen stark beschränkte Rätien von den Ostgoten an die Franken abgetreten. Anfänglich bildete es ein Ganzes unter einem Präses oder Herzog, welche Würde im 7. und 8. Jahrhundert in dem Geschlecht der Viktoriden erblich war, die oft zugleich das Bistum zu Chur, wo seit 451 Bischöfe erwähnt werden, innehatten. Unter Karl dem Großen zerfiel Rätien in mehrere Gaue, von denen Churrätien, im ganzen das heutige Graubünden und Vorarlberg, der wichtigste war. Durch Burkhart, den Grafen von Churrätien, der sich 917 zum Herzog von Alemannien aufschwang, wurde es mit Alemannien vereinigt. Durch Teilung der Grafschaften und Verleihung von Immunitäten zerfiel Churrätien allmählich in eine Menge von weltlichen und geistlichen Herrschaften; die größte war die des Bischofs von Chur, die im 14. Jahrhundert die Stadt Chur, das Domleschg, Oberhalbstein, Engadin, Münstertal, Puschlav, Bergell u. a. umfasste. Als Bischof Peter im Begriff stand, die weltliche Verwaltung des Bistums an Österreich zu übertragen, vereinigten sich 1367 das Domkapitel, der bischöfliche Dienstadel, die Stadt Chur und die dem Gotteshaus zugehörigen „Täler“ zum Schutz der Selbständigkeit des Bistums. So entstand der Bund des „gemeinen Gotteshauses“ oder der Gotteshausbund, der bald regelmäßige Tage abhielt und dem Bischof seine Mitwirkung bei allen wichtigen Staatshandlungen aufnötigte. 1395 schlossen der Abt von Dissentis und die im Vorderrheintal begüterten Herren von Sax und Räzüns nebst ihren Gemeinden ein Bündnis zur Aufrechthaltung des Landfriedens, dem bald auch die Grafen von Werdenberg für ihre Besitzungen am Vorderrhein sowie verschiedene Gemeinden am Hinterrhein beitraten. 1424 wurde dieser obere oder graue Bund unter dem Ahorn zu Truns neu beschworen und erweiterte sich 1480 und 1496 noch durch den Beitritt der Herren des Misox- und Calancatales. Nach dem Hinscheiden des letzten Grafen von Toggenburg knüpften auch die „Gerichte“, die er in Maienfeld und Malans, Prätigau, Davos, Schanfigg und Churwalden besessen, eine Verbindung unter sich, den Zehngerichtebund (1436), um den Folgen einer Teilung des Erbes vorzubeugen. Die drei Bünde traten dann untereinander wieder in dauernde Verbindungen, zuletzt der Zehngerichtebund mit dem Obern Bund (1471); aber schon vorher (1468) erscheinen die „dry bünd“ als gemeinsam handelnder Staatskörper, der schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts von dem Range nach voranstehenden Obern Bund den Namen Graubünden empfing .Ein alle drei Bünde umfassender ewiger Bundesvertrag wurde erst am 23. September 1524 zu Ilanz ausgerichtet. Die demokratische Entwickelung des neuen Gemeinwesens wurde dadurch begünstigt, dass Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts alle alträtischen Dynastien ausstarben. Durch eine Reihe von Loskaufstraktate bis ins 19. Jahrhundert gingen bald nur einzelne Rechtsame, bald die Gesamthoheit der geistlichen und weltlichen Herren auf die Gemeinden oder Gerichte über. So wurde nach und nach jedes der letzteren ein souveräner Kleinstaat mit eigener Verfassung und Verwaltung; zwei oder mehrere Gerichte bildeten ein Hochgericht, das schon eine Art Bundesstaat war.

Gruss aus dem Oberengadin
Gruss aus dem Oberengadin

So zerfiel der Obere Bund in 8 Hochgerichte und 19 Gerichte, der Gotteshausbund in 11 Hochgerichte und 21 Gerichte, der Zehngerichtebund in 7 Hochgerichte und 11 Gerichte. An der Spitze des Obern Bundes stand der alljährlich auf dem Bundestag zu Truns erwählte „Landrichter“, an der des Gotteshausbundes der Bürgermeister von Chur (seit 1700 ein „Bundespräsident“) und an derjenigen der Zehngerichte der „Bundeslandammann“. Die gemeinsamen Behörden aller drei Bünde waren der „Bundestag“, an dem der Obere 28, das Gotteshaus 23 und die Zehngerichte 15 Stimmen hatten, und der anfänglich zu Vazerol, seit 1524 aber abwechselnd zu Ilanz, Chur und Davos tagte, und für die laufenden Geschäfte der „Beitag“, der gewöhnlich aus den drei Bundeshäuptern bestand, mitunter aber auch noch durch Boten der Hochgerichte bis auf die Hälfte der gewöhnlichen Anzahl verstärkt wurde. Bundesbeschlüsse erlangten jedoch erst Gültigkeit, wenn die Mehrheit der Gemeinden sie bestätigte (Referendum). Ein „Kongress“, bestehend aus den drei Bundeshäuptern und je drei Boten jedes Bundes, verifizierte die Abstimmung. Die Übergriffe Österreichs, das, bereits im Besitz gewisser Herrschaftsrechte im Unterengadin und Münstertal, 1477–97 den größten Teil des Zehngerichtebundes sowie Räzüns im Obern Bund erwarb und Graubünden gänzlich von sich abhängig zu machen suchte, bewirkten, dass 21. Juni 1497 der Obere und am 13. Dezember 1498 der Gotteshausbund mit den sieben alten Orten der Eidgenossenschaft (ohne Bern) einen ewigen Freundschaftsvertrag schlossen. Der unmittelbar darauf folgende Schwabenkrieg, in dem die Bündner den glorreichen Sieg an der Calven (22. Mai 1499) erfochten, gab dieser Verbindung die Bluttaufe. Seitdem galt Graubünden als ein unterstütztender Ort der Eidgenossenschaft und nahm teil an ihren Feldzügen und Bündnissen. In den Mailänder Feldzügen erwarb es 1512 die Landschaften Veltlin, Bormio und Cläven als Untertanenland. Die Reformation fand auch in Graubünden Eingang; nach einem Religionsgespräch zu Ilanz (7. Januar 1526) erklärte der Bundestag den Bischof aller weltlichen Gewalt verlustig und gewährte Glaubensfreiheit. Die religiöse Entzweiung sowie die Bündnisse mit dem Ausland machten Graubünden im 17. Jahrhundert zum Schauplatz grauenvoller Parteikämpfe. Das ganze Land spaltete sich in eine spanisch-österreichische und in eine französisch-venezianische Faktion; so oft eine Partei siegte, proskribierte sie die Gegner durch ein „Strafgericht“. 1620 erhoben sich die von Mailand aus fanatisierten Veltliner im Einverständnis mit den geächteten Häuptern der spanischen Partei und ermordeten die im Land anwesenden Protestanten (Veltliner Mord 20. Juli); ein entsetzlicher Bürgerkrieg entbrannte, zugleich rückten die Spanier in Veltlin, die Österreicher im Münstertal ein. Die katholischen Eidgenossen leisteten im Interesse des Glaubens den beiden Mächten Vorschub, die Züricher und Berner, die den evangelischen Bündnern zu Hilfe kamen, wurden von den Spaniern bei Tirano (11. September 1620) geschlagen, worauf Graubünden sich in den Mailänder Verträgen (15. Januar 1622) zur Abtretung des Zehngerichtebundes, des Unterengadins, Münstertals und Veltlins an Österreich-Spanien bequemen musste. Ein Aufstand der gewaltsam bekehrten Prätigauer scheiterte 1622. Allein Richelieu wollte die Bündnerpässe nicht in den Händen der Habsburger lassen, ein französisch-schweizerisches Heer trieb die Österreicher 1624 aus Graubünden heraus, und 1635 entriss Herzog Rohan auch das Veltlin den Spaniern.

Graubünden-Grisons
Graubünden-Grisons

Die Bündner waren indes damit nur von einer Fremdherrschaft in die andere gefallen, bis ihre feindlichen Parteien unter der Leitung des verschlagenen Georg Jenatsch sich einigten und durch ein Bündnis mit Spanien-Österreich den Abzug der Franzosen erzwangen (1637). Durch diese Ereignisse sowie durch die daraus hervorgehende dauernde Anlehnung Graubündens an Österreich lockerte sich das Verhältnis des Landes zur Eidgenossenschaft derart, dass man es seitdem wieder als ein besonderes Staatswesen neben der Schweiz betrachtete, auch wenn Zürich und Glarus 1590 mit den Zehngerichten und 1602 Bern mit allen drei Bünden ewige Bünde geschlossen hatten. Die französische Revolution fand den rätischen Freistaat, wie die Eidgenossenschaft, ohne einigende Organisation und von Parteien zerrissen. Die Untertanen empörten sich, und als Graubünden zögerte, nach Bonapartes Vorschlag die drei Landschaften als gleichberechtigten vierten Bund anzunehmen, vereinigte sie dieser mit der Zisalpinischen Republik (10. Oktober 1797), wobei das dort befindliche Vermögen bündnerischer Privatpersonen konfisziert wurde. 1798 richtete die neubegründete Helvetische Republik an Graubünden die Einladung, sich ihr anzuschließen; allein die Mehrheit der Gemeinden sprach sich dagegen aus. Als Graubünden sogar österreichische Truppen aufnahm, rückte Masséna ebenfalls ein (im März 1799), und das Land wurde der Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Österreichern und Franzosen. Durch die Mediationsakte (1803) wurde Graubünden endgültig der Schweiz einverleibt und bekam eine Verfassung, die zwar die Einteilung in Bünde und Hochgerichte sowie das Referendum beibehielt, aber den ehemaligen Bundestag in einen Großen Rat, den „Beitag“ in einen permanenten Kleinen Rat, den „Kongress“ in eine „Standeskommission“ verwandelte und für Zentralisation der wichtigsten staatlichen Befugnisse sorgte. Am 4. Januar 1814 wurde durch einen Auflauf von der österreichischen Partei die Aufhebung der Mediationsverfassung und die Einberufung des alten Bundestages erzwungen; doch stimmte die neue Verfassung vom 11. November 1814, die noch Nachträge erhielt und erst 1820 als vollständig ins eidgenössische Archiv gelegt wurde, in allem Wesentlichen mit der Mediationsverfassung überein. Die Bemühungen Graubündens beim Wiener Kongress, wieder zu den ihm entrissenen italienischen Provinzen zu gelangen, waren ergebnislos; doch ließ sich Österreich, das in deren Besitz blieb, 1833 herbei, den dabei beraubten Personen eine Abfindungssumme zu bezahlen. Durch eine Verfassungsrevision vom 1. Februar 1854 wurde die historische Einteilung durch eine moderne in Bezirke, Kreise und Gemeinden ersetzt, durch eine weitere vom 23. Mai 1880 zum Referendum die Volksinitiative für Gesetze hinzugefügt. Am 2. Oktober 1892 wurde eine neue Verfassung angenommen, welche die Ausübung der Volksrechte erleichterte, die Wahl der Regierung durch das Volk einführte und in dieser das Kollegialsystem durch das Departementalsystem ersetzte.

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Quellenhinweise:

  • „Ortslexikon der Schweiz“ von Henry Weber, Verlag von M. Kreutzmann, St. Gallen 1887
  • „Meyers Konversations-Lexikon“ in 24 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig und Wien 1906
  • „Meyers kleines Konversations-Lexikon“ in 6 Bänden 1908
  • „Meyers Lexikon“ in 12 Bänden Bibliographisches Institut Leipzig 1924
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