Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich über Ägypten und Marokko vom 8. April 1904
Artikel I
Die Regierung Seiner Britischen Majestät erklärt, daß sie nicht die Absicht hat, den politischen Zustand Ägyptens zu ändern. Die Regierung der französischen Republik erklärt ihrerseits, daß sie die Maßnahmen Englands in diesem Lande nicht durch die Forderung einer zeitlichen Begrenzung der britischen Besetzung oder auf irgendeine andere Weise erschweren wird und daß sie dem dieser Vereinbarung angefügten Entwurf zu dem Erlaß des Khediven zustimmt, der die Garantien enthält, die zum Schutz der Interessen der Inhaber der ägyptischen Schuld für erforderlich erachtet werden, aber unter der Bedingung, daß nach seiner Inkraftsetzung keine Abänderung ohne die Zustimmung der Signatarmächte des Londoner Abkommens von 1885 daran vorgenommen werden darf. Es wird vereinbart, daß die Generaldirektion der Altertümer in Ägypten auch weiterhin, wie früher, einem französischen Gelehrten anvertraut werden soll. Die französischen Schulen in Ägypten genießen auch fernerhin die gleiche Freiheit wie früher.
Artikel II.
Die Regierung der französischen Republik erklärt, daß sie nicht die Absicht hat, den politischen Zustand Marokkos zu ändern. Die Regierung Seiner Britischen Majestät erkennt ihrerseits an, daß es Frankreich zukommt, vornehmlich weil es auf einer langen Strecke Marokkos Grenznachbar ist, über die Ruhe in diesem Lande zu wachen und ihm bei allen Verwaltungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Militärreformen deren es bedarf, Beistand zu leisten. Sie erklärt, daß sie die diesbezüglichen Maßnahmen Frankreichs nicht erschweren wird, unter dem Vorbehalt, daß diese Maßnahmen die Rechte unberührt lassen, die Großbritannien auf Grund der Verträge, Abkommen und Gewohnheiten in Marokko genießt, einschließlich des Rechtes auf Küstenschiffahrt zwischen den marokkanischen Häfen, das den englischen Schiffen seit 1901 zusteht.
Artikel III.
Die Regierung Seiner Britischen Majestät wird ihrerseits die Rechte achten, die Frankreich auf Grund der Verträge, Abkommen und Gewohnheiten in Ägypten genießt, einschließlich des den französischen Schiffen gewährten Rechtes auf Küstenschiffahrt zwischen den ägyptischen Häfen.
Artikel IV.
Die beiden Regierungen, in gleicher Weise Anhänger des Grundsatzes der Handelsfreiheit sowohl in Ägypten wie in Marokko, erklären, daß sie daselbst zu keiner Ungleichheit die Hand bieten werden, und zwar ebensowenig bei der Aufstellung der Zollgebühren oder anderen Abgaben, wie bei der Aufstellung der Tarife für Eisenhahnbeförderungen. Der Handel jeder der beiden Nationen mit Marokko und mit Ägypten soll für den Durchgangsverkehr durch die französischen und britischen Besitzungen in Afrika die gleiche Behandlung genießen. Eine Vereinbarung zwischen den beiden Regierungen wird die Bedingungen dieses Durchgangsverkehrs regeln und die Zugangspunkte bestimmen. Diese gegenseitige Verpflichtung ist für einen Zeitraum von dreißig Jahren gültig. Wird sie nicht mindestens ein Jahr vorher ausdrücklich gekündigt, so verlängert sich dieser Zeitraum von fünf zu fünf Jahren. Jedoch behält sich die französische Regierung in Marokko und die Regierung Seiner Britischen Majestät in Ägypten vor, darüber zu wachen, daß die Konzessionen für Wege, Eisenbahnen, Häfen usw. unter solchen Bedingungen vergeben werden, daß die Autorität des Staates über diese großen Unternehmungen von allgemeinem Interesse unvermindert bleibt.
Artikel V.
Die Regierung Seiner Britischen Majestät erklärt, daß sie ihren Einfluß dafür verwenden wird, daß die augenblicklich in ägyptischen Diensten stehenden französischen Beamten keine weniger günstigen Bedingungen erhalten als auf die englischen Beamten im gleichen Dienst angewendet werden. Die Regierung der französischen Republik hätte ihrerseits nichts dagegen einzuwenden, daß den augenblicklich in marokkanischen Diensten stehenden britischen Beamten entsprechende Bedingungen gewährt würden.
Artikel VI.
Um die freie Durchfahrt durch den Suezkanal zu gewährleisten, erklärt die Regierung Seiner Britischen Majestät ihre Zustimmung zu den Bestimmungen des Vertrages vom 29. Oktober 1888 und zu ihrer Inkraftsetzung. Da die freie Durchfahrt durch den Kanal auf diese Weise garantiert ist, wird die Durchführung von Artikel VIII dieses Vertrages, Absatz 1, letzter Satz und Absatz 2 weiterhin ausgesetzt.
Artikel VII.
Um die freie Durchfahrt durch die Meerenge von Gibraltar zu gewährleisten, vereinbaren die beiden Regierungen, an dem Teil der marokkanischen Küste zwischen Melilla und den Höhen, die das rechte Sebou-Ufer beherrschen (ausschließlich dieser beiden Punkte), keine Befestigungen oder strategischen Anlagen irgendwelcher Art errichten zu lassen. Diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die Punkte an der marokkanischen Küste des Mittelmeeres, die gegenwärtig von Spanien besetzt sind.
Artikel VIII.
Im Gefühle ihrer aufrichtigen Freundschaft für Spanien nehmen die beiden Regierungen besondere Rücksicht auf die Interessen, die sich für Spanien aus seiner geographischen Lage und seinen territorialen Besitzungen an der marokkanischen Küste des Mittelmeeres ergeben; die französische Regierung wird sich über diese Interessen mit der spanischen Regierung verständigen. Die Regierung Seiner Britischen Majestät soll von dem hierüber etwa zu treffenden Abkommen zwischen Frankreich und Spanien benachrichtigt werden.
Artikel IX.
Die beiden Regierungen vereinbaren, einander bei der Durchführung der Bestimmungen dieser Erklärung über Ägypten und Marokko diplomatisch zu unterstützen. Zu Urkund dessen haben Seine Exzellenz der Botschafter der französischen Republik bei Seiner Majestät dem König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland und der Überseeischen britischen Lande, Kaiser von Indien, und Seiner Britischen Majestät Erster Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, die hierzu gebührend bevollmächtigt sind, diese Erklärung unterzeichnet und mit ihren Siegeln versehen.
Geschehen zu London in zweifacher Ausfertigung am 8. April 1904.
(L. S.) Paul Cambon.
(L. S.) Lansdowne.
Quellenangaben:
- Recueil International des Traité du XX e Siècle von Baron Descamps und Luis Renault, Année 1904, Paris: Arthur Rousseau, S 56.
- „Deutschland und Europa 1890 – 1914“ von Friedrich Stieve, Verlag für Kulturpolitik/Berlin 1926
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